Man kennt das Phänomen aus der Kunst: Viele Musiker, Literaten und Maler sind genau dann am kreativsten, wenn sie gerade am absoluten Tiefpunkt angelangt sind, wenn alles so hoffnungslos scheint, dass nur eine zündende Idee die Schaffenskräfte entfesseln kann. Und dann geht es automatisch wieder bergauf.
So könnte man die Theorie der langen Wellen des russischen Nationalökonomen Nikolai Kondratieff auf die Ebene eines persönlichen Lebenslaufs übertragen. Kondratieffs in den 1920er-Jahren entwickelte Konjunkturzyklen freilich reichen viel weiter und beschreiben langfristige Produktivitätsschübe als gesamtgesellschaftliche Vorgänge.
Die ganzheitliche Betrachtung der Mechanismen des langfristigen Auf- und Abschwungs, die auch einen Blick in die Zukunft erlaubt, kostete dem Wirtschaftsforscher sein Leben. Sein Ansatz, der den gängigen mechanistischen Denkmodellen der Ökonomie widerspricht, dürfte aber auch dafür verantwortlich sein, dass Kondratieffs nicht unumstrittene Theorie in den letzten Jahren populärer denn je geworden ist. Heute dient sie den Apologeten der langen Wellen dazu, den Beginn eines Übergangs von der Informationsgesellschaft zu einer Gesundheitsökonomie zu postulieren.
Berg- und Talfahrten
Von Computerzeitalter und Biotechnologie war Kondratieff noch weit entfernt, als er 1926 den Aufsatz „Die langen Wellen der Konjunktur“ veröffentlichte. Darin stellte der 1892 geborene Bauernsohn und spätere Mitbegründer der ersten Fünfjahrespläne fest, dass das ständige Auf und Ab im kapitalistischen Wirtschaftsleben von langen, zwischen 40 und 60 Jahre dauernden Konjunkturwellen überlagert wird. Zwischen 1780 und 1920 fand er drei Aufschwungphasen, die jeweils durch eine technische Innovation gekennzeichnet waren, welche immer in Zeiten der Depression auftrat.
Demnach beobachtete Kondratieff eine von der Dampfmaschine, eine von der Eisenbahn und eine von der Elektrizität bestimmte „lange Welle“, die so lange andauerte, bis keine Produktivitätszuwächse in den entstandenen Wirtschaftszweigen mehr möglich waren.
Seinen Berechnungen zufolge sollte die Konjunkturwelle Ende der 20er-Jahre eine erneute Talsohle erreichen – was mit der Weltwirtschaftskrise 1929 eintraf. Kondratieffs Theorie bedeutete aber auch, dass bessere Zeiten für die Marktwirtschaft folgen würden und der Kapitalismus nicht, wie vom stalinistischen Regime propagiert, endgültig dem Untergang geweiht war. Im Gegensatz zu seinen Kritikern sah er in äußeren Einflüssen wie Kriegen, Revolutionen und Reformen nicht die Ursache, sondern die Folge der Wellenbewegungen. Vielmehr sei das ökonomische Pulsieren auf eine dem Kapitalismus innewohnende Dynamik zurückzuführen, die aus den realen Bedürfnissen der Menschen gespeist wird und nur bedingt gesteuert werden kann. Nikolai Kondratieff, stets ein vorbildlicher Kommunist, wurde 1930 verhaftet, nach Sibirien deportiert, 1938 zum Tode verurteilt und erschossen.
Im Osten nicht weiter beachtet, wurde die Theorie der langen Konjunkturwellen vom österreichischen Nationalökonomen Joseph Schumpeter aufgegriffen, der den Begriff „Kondratieff-Zyklen“ prägte, die von „Basisinnovationen“ ausgelöst wurden, welche alle Lebensbereiche von der Infrastruktur über Organisationskonzepte bis zur Bildung beeinflussten. Später erweiterten Kondratieffs Adepten die Konjunkturzyklen bis zum gegenwärtigen Informationszeitalter (siehe Grafik) und versuchten neue Beweise für ihre Existenz zu finden.
Zurück zur Natur
Der Physiker Cesare Marchetti, der seit den 1980er-Jahren am International Institute for Applied System Analysis (IIASA) in Laxenburg forscht, belegte in zahlreichen Studien, dass Erfindungen und technische Innovationen ähnlich Grippewellen „epidemisch”, also nicht zufällig, sondern gehäuft auftreten. Letztendlich würde nicht nur die Wirtschaft, sondern alle menschlichen Belange einem Muster von 55-jährigen, mehr oder weniger sinusförmigen Zyklen folgen, schließt Marchetti. Da der „sozioökonomische Stoffwechsel” zu den Grundlagen der Gesellschaft gehöre, könnten auch zuverlässige Prognosen gemacht werden.
Mit dem bevorstehenden „sechsten Kondratieff“ beschäftigen sich Zukunftsforscher wie Leo Nefiodow, der überzeugt ist, dass der Gesundheitsmarkt als neuer Wachstumsmotor die an ihre Grenzen gestoßene Informationsgesellschaft ablösen werde. Schlagworte wie „Wellness“, „Work-Life-Balance“, „psychosoziale Kompetenz“ und „emotionale Intelligenz“ würden zu neuen Produktivitätsfaktoren werden und der Gesellschaft zu Wohlstand und Wohlbehagen verhelfen.