Noch heute ist der Abriss der Bergflanke zu erkennen, der 25 Millionen Tonnen Wasser über die Vajont-Staumauer drückte. Die Flutwelle löschte fünf Dörfer aus.

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Ein ehrgeiziges Staudammprojekt tötete 1963 rund um den italienischen Ort Longarone fast 2000 Menschen. Eine Bergflanke war in den Stausee gestürzt und hat ihn überflutet. Nun haben Forscher die Abläufe rekonstruiert.

Es war eine der größten Naturkatastrophen, die sich je in Europa ereignet haben. Am 9. Oktober 1963 löste sich in den italienischen Alpen eine 270 Millionen Tonnen schwere Flanke von dem Berg Toc und stürzte in den Vajont-Stausee. Der Aufprall setzte eine Energie frei, die mit jener von drei Hiroshima-Atombomben vergleichbar ist.

25 Millionen Tonnen Wasser schwappten über den Staudamm, eine 160 Meter hohe Flutwelle vernichtete fünf Dörfer im Tal. Fast 2000 Menschen starben. Mehr als 40 Jahre danach stehen die Ereignisse von Vajont, die einen der größten Skandale der italienischen Geschichte auslösten, nun vor der endgültigen Aufklärung.

Die Katastrophe von Vajont begann mit Betrug. Die Adriatische Elektrizitätsgesellschaft Sade hatte in den 1930er-Jahren beantragt, ein Wasserkraftwerk in den Bergen 100 Kilometer nördlich von Venedig bauen zu dürfen. Die Firma plante eine abenteuerliche Architektur: Der Vajont-Staudamm ist noch heute mit 261 Metern der höchste seiner Art. Doch bereits bei der Genehmigung des Bauwerkes ging es nicht mit rechten Dingen zu. Am 15. Oktober 1943 erteilte das zuständige Ministerium der Sade die Bauerlaubnis, obwohl nicht genügend Stimmberechtigte anwesend waren.

Die Sade trieb das Projekt mit Entschiedenheit voran. Hunderte Familien wurden enteignet und umgesiedelt. Der Bau der Staumauer begann 1956, noch bevor die Regierung zugestimmt hatte. Einspruch der Politik hatte die Sade nicht zu befürchten. Im Gegenteil: Das Ministerium berief als Sachverständige Geologen, die auf der Lohnliste der Sade standen. Bald stellte sich heraus, dass ihre Expertise unvollständig war. Während der Bauarbeiten rissen an den Hängen über dem Tal Straßen auf. Hastig wurde nach einem geologischen Gutachten gesucht. Doch nur die Flanken unterhalb der geplanten Staumauer waren geologisch analysiert worden, nicht aber die Hänge.

Müllers Warnung

Drei Jahre nach Beginn der Bauarbeiten wurden endlich weitere Experten mit Erkundungen beauftragt. Der Österreicher Leopold Müller erkannte als Erster, dass eine Katastrophe drohte: Der Geologe identifizierte eine 600 Meter dicke und zwei Kilometer weite M-förmige Rutschmasse auf dem Berg Toc. Doch Müllers Warnung fand kaum Gehör bei den Verantwortlichen, andere Experten widersprachen. Der Bergrücken bestehe aus kompaktem, stabilem Gestein, erklärte zum Beispiel der Geophysiker Pietro Caloi.

Vor allem der Chefingenieur des Vajont-Staudamms, Carlo Semenza, blieb starrsinnig. Er ließ sich selbst dann nicht beeindrucken, als sein Sohn Edoardo Semenza – selbst Geotechniker – die Planungen infrage stellte. Dieser verschärfte sogar die Warnung von Leopold Müller: Edoardo Semenza hatte entdeckt, dass sich 200 Millionen Kubikmeter Gestein auf dem Berg unmerklich talwärts bewegten.

Vater Semenza versuchte dennoch, seinen Sohn zu bewegen, die Aussagen abzuschwächen. Doch der weigerte sich. So beschlossen die Sade und Politiker, das nicht genehme Gutachten unter Verschluss zu halten. Gegner des Projekts wurden von den öffentlichen Stellen verfolgt.

Für die Regierung gab es kein Zurück mehr, der Staudamm war im Herbst 1959 fertig geworden. Die Sade begann damit, den See zu füllen; zunächst zur Probe. Schon im November 1960 gab der Berg eine Warnung: Ein mächtiger Gesteinsblock stürzte ins Wasser, im Hang taten sich meterbreite Gräben auf – sie verliefen M-förmig, wie es Müller vorhergesagt hatte.

Nun hatten alle Anwohner erkannt, dass sie in großer Gefahr waren. Der Geophysiker Pietro Caloi bezweifelte jetzt sogar sein eigenes Untersuchungsergebnis, wonach der Berg harmlos sei. Einzig der vom Staat eingesetzte Geologe Francesco Penta blieb bei seiner Einschätzung, dass keine Gefahr drohe. Im Dezember 1961 erteilte das Ministerium die Genehmigung, den See fast komplett zu fluten. Die Füllprobe dauerte bis Oktober 1962. Leichte Erdbeben ließen während der gesamten Zeit das Tal vibrieren.

Die eindringlichste Warnung jedoch erhielt die Sade am 3. Juli 1962 von Wasserbauingenieuren. Laborexperimente hatten ergeben, dass das Wasser des Sees nach einem Bergsturz über die Staumauer treten und Siedlungen im Tal überflutet würde. Doch die Firma hielt den Bericht geheim. Im April 1963 erteilte das Ministerium die Genehmigung, den Stausee endgültig zu füllen.

Was danach im Berg geschah, haben Emmanuil Veveakis und seine Kollegen von der TU Athen nun minutiös nachvollzogen (Journal of Geophysical Research, Bd. 112, S. F03026). Dazu fügten sie die bekannten Ereignisse und geologische Informationen zusammen und ließen den Kollaps am Computer in Zeitlupe ablaufen.

Während sich der Stausee allmählich füllte, begann der Berg zu vibrieren. Am 3. September erschütterte dann ein heftiges Erdbeben das Vajont-Tal. Am 15. September ruckte die gesamte Flanke am Toc um 22 Zentimeter nach unten. Die Verantwortlichen sahen ein, dass sie das Projekt stoppen mussten. Sie glaubten jedoch, dass sie nur das Wasser abzulassen brauchten, um die Rutschung zu stoppen. Doch die Flanke bewegte sich weiter, bis sie am 9. Oktober 1963 vollständig in den Stausee fiel.

Aufgeheizte Flanke

Veveakis und seine Kollegen konnten nun klären, warum der entscheidende Rettungsversuch scheiterte. Die stete Reibung der Gesteine habe eine Tonschicht unter der Flanke stark aufgeheizt. Drei Wochen vor der Katastrophe wurde die Hitze so groß, dass sich unter dem Gestein ein heißes Luftkissen bildete. Auf diesem Hitzekissen beschleunigte sich die Masse. Bald wurde die Bergflanke nur noch von einzelnen Tonmolekülen gehalten, die aneinanderhafteten wie Klettverschlüsse. Am 9. Oktober 1963 um 22.39 Uhr sprengte heißes Wasser diese Verbindungen bei einem sogenannten „thermoplastischen Kollaps“.

Die Bergflanke rutschte mit fast 100 Kilometern pro Stunde zu Tal und stürzte in den Stausee. Das Wasser schoss über die Staumauer. Es trieb einen Sturm vor sich her, der Menschen im Tal die Haut vom Körper riss. Die Flutwelle löschte fünf Dörfer aus, andere wurden zu großen Teilen zerstört. Im Städtchen Longarone gab es die meisten Opfer.

In Dutzenden Gerichtsprozessen wurde die Katastrophe in den folgenden Jahrzehnten verhandelt. Den Opfern wurde Schadenersatz von insgesamt 22 Milliarden Lire – heute etwa elf Millionen Euro – zugesprochen. Mehrere Verantwortliche wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Axel Bojanowski/DER STANDARD, Printausgabe, 31.10.2007)