Thomas Rottenberg mit dem Hunde-Ausbildner Karl Heinz Ferstl und Blindenführhund Johnny auf dem dicht bevölkerten Gehsteig beim Café Central. Sich führen zu lassen muss man lernen. Denn Johnny zieht, zwar sanft, aber beharrlich.

Foto: Matthias Cremer
Man muss den Hund genau spüren, um zu wissen, warum er etwas tut oder was er signalisiert. Ein Selbstversuch. Von Thomas Rottenberg.

* * *

Die Sache mit der Türschnalle ist super. Die kapiert sogar ein Sehender. Und zwar auf Anhieb: Der Türgriff ist dort, wo Johnnys Kopf ist. Nur drüber. Genau senkrecht drüber. Und die Suche nach dem Knauf hat deshalb ein bisserl was von einer Belohnung für den Hund. Schließlich hat es der ja geschafft, den Menschen sicher ans Ziel zu bringen: Den Kopf des Hundes mit der freien Hand zu finden ist kein Kunststück – schließlich endet das Geschirr an seiner Schulter: "Kopf finden" ist da "Kopf tätscheln". Und obwohl Johnny mich gerade einmal 300 Meter (höchstens) durch die Stadt gelenkt hat, bin ich erschöpft. Dabei war die Strecke vom Café Central zur Apotheke auf der Freyung in der Wiener City für den zweijährigen Labrador-Retriever-Rüden vermutlich weit schwieriger als für mich. Und in jedem Fall anstrengender, als wenn er den Weg mit einem "echten" Blinden gegangen wäre. Und zwar meinetwegen. Denn normalerweise, erklärt Johnnys Ausbildner, der burgenländische Ex-Gendarm Karl Heinz Ferstl, gehe das nicht ohne Training. Training für den Menschen, versteht sich.

Sich leiten lassen

Um sich von einem Blindenführhund ("Blindenhund ist eigentlich falsch – der Hund ist ja nicht blind") leiten zu lassen, braucht es nämlich ein bisserl mehr als bloß Vertrauen: Man muss den Hund spüren, also verstehen, was er wie wann und warum tut – oder signalisiert. Das muss man lernen – zwei bis drei Wochen, erklärt Ferstl, brauche ein Blinder dafür. Wenn er gut ist.

Bei mir ist die Sache schwieriger: Ich kann sehen. Und bin (Ferstl ist höflich) "eher mittelgut". Aber das eigentlich Problem ist das Sehen-Können: Zu wissen, dass Johnny weiß, was er tut, ist das eine. Die Augenbinde trotzdem nicht abzunehmen, das andere. Schließlich zerrt die Töle in einem Höllentempo dahin. Und dass der Gehsteig schmal und dicht bevölkert ist, weiß ich. Ebenso, dass da überall Mistkübel und Verkehrszeichen im Weg herumstehen. Und eine Baustelle. "Langsamer, Johnny! Nicht rennen!" Ferstl lacht (immerhin: Er ist noch da) und beruhigt mich: "Das ist schon der Kriechgang. Der Hund macht das schon richtig – aber du bist ziemlich steif."

Johnny zieht. Sanft, aber konsequent. Das ist sein Beruf: Ein Blindenführhund, der "neutral" –also bei Fuß – geht, würde so ziemlich alles falsch machen. Und dass ich die kleinen Ausweichmanöver des Hundes zuerst nicht verstehe, ist meine, nicht seine Schuld: Dass Geschirr ist an der Schulter befestigt, und die Stange in meiner Hand schwankt bei jedem Schritt leicht hin und her. Das ist zwar logisch – aber kein Sehender würde je daran denken, dass die gerade Linie des Blinden die Summe aus der Vielzahl kleinster Links-rechts-Bewegungen des Hundes ist.

Mensch entscheidet

Und noch etwas ist – eigentlich – logisch: "Nicht der Hund, der Mensch entscheidet, wann man die Straße überquert", erklärt der ehemalige Gendarmerie-Hundeführer Ferstl. Auch Ampeln "versteht" Johnny nicht: An der Gehsteigkante bleibt er stehen – und wartet auf mein Losgehen: "Der Hund ist kein Navi, sondern ein Sonar – wann und wohin es weitergeht, muss ihm der Mensch sagen, auch wenn der Hund sich mit der Zeit die Hauptrouten merkt", erklärt Ferstl. Ich höre nicht ihm zu, sondern versuche, Motorengeräusche zu orten: Meine Ohren werden größer und größer – aber ohne den Hundetrainer stünde ich heute noch. "Die meisten Autofahrer bleiben sofort stehen, wenn sie einen Blindenhund sehen – aber wirklich drauf verlassen würde ich mich nicht ..."

Unbeirrbar

Auf der anderen Straßenseite bleibt Johnny wieder stehen: Die Vorderfüße am Gehsteig, wartet er, bis ich mit dem Fuß (im echten Leben wäre es der Blindenstock) die Kante ertastet habe, erst dann geht es weiter. Und der Hund, den ich da kurz von der Seite knurren hörte, hat Johnny nicht einmal ignoriert: "Labrador-Retriever", wird Ferstl nachher erklären, "sind genau deshalb optimal: Sie sind friedfertig und leicht zu handhaben und sie sind freundlich. Ein Hund mit starkem Schutztrieb wäre auch deshalb falsch, weil er nicht immer erkennen kann, ob jemand seinem Besitzer nur helfen will."

"Tür links", sagt Ferstl – und Johnny trottet gemächlich (für mich immer noch wahnsinnig schnell) geradeaus weiter. Ich glaube schon an einen Fehler, als der Hund sich dann doch nach links wendet, mir (Stopp mit den Vorderfüßen auf der untersten Stufe) die Treppe anzeigt und mich dann an der Tür absetzt: Die Türschnalle finde ich auf Anhieb. Immerhin. (Thomas Rottenberg/DER STANDARD – Printausgabe, 2.11.2007)