Berlin – Ein bundesweiter Streik im Güterverkehr würde die deutschen Unternehmen täglich Dutzende Millionen Euro kosten. "Hier können sehr schnell Schäden in einer Größenordnung von 25 bis 50 Millionen Euro pro Tag entstehen", sagte Claudia Kemfert vom Berliner DIW am Freitag Reuters TV. Dauere der Streik mehrere Tage und führe dadurch zu Produktionsausfällen, könnte schnell ein Vielfaches dieser Summe zusammenkommen. "Dann kann der Schaden leicht auf 100 bis 120 Millionen pro Tag steigen", sagte Hagen Lesch vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW). Als besonders anfällig für Störungen des Schienenverkehrs gelten der Fahrzeugbau und die Metallverarbeitung. "Diese sind auf die Lieferungen der Bahn angewiesen", sagte Kemfert. "Sie produzieren ,just in time‘ und haben nicht genügend Kapazitäten, auf Lagerhaltung auszuweichen."

Chemieindustrie fürchtet Schäden

Auch die Chemieindustrie fürchtet große Schäden bei einem Streik. "Bei einigen Unternehmen wird das sicher ein sehr kritischer Fall sein, bis hin zu Produktionsausfällen", sagte Andrea Neid vom Branchenverband VCI. Nach IW-Angaben transportiert die Deutsche Bahn täglich Waren im Wert von rund 240 Millionen Euro. Sie halte damit einen Anteil von etwa 85 Prozent im gesamten Güterverkehr. Die Bahn-Tochter Railion ist mit 3,9 Milliarden Euro Umsatz und 5000 Güterzügen täglich die größte Güterbahn Europas. Auch ein Streik des Personenfernverkehrs schadet der Wirtschaft nach Einschätzung der Experten. "Bestimmte Reiseziele können nicht erreicht werden, das sind auch volkswirtschaftliche Belastungen", sagte Kemfert. "Und diese können auch sehr schnell einen einstelligen Millionenbetrag an Kosten verursachen." Die deutsche Koalition streitet weiter kräftig über die Privatisierung der Bahn. "Es wird in dieser Wahlperiode keine Privatisierung geben. Ich gehe davon aus, dass der Koalitionsausschuss das Projekt noch an diesem Sonntag stoppt", sagte der stellvertretende Unions-Fraktionschef Hans-Peter Friedrich der Zeitung Die Welt.

Gegen "Volksaktie"

Die Festlegung des SPD-Parteitags auf das Volksaktien-Modell habe jede Grundlage für eine Einigung innerhalb der Koalition zerstört. Ähnlich äußerte sich der Unions-Verkehrsexperte Georg Brunnhuber, der auch im Aufsichtsrat der Bahn sitzt. "Anstatt eine quälende Diskussion fortzusetzen, die der Bahn nur schadet, sollte man an dieser Stelle einen Schnitt machen", sagte Brunnhuber. Stattdessen wolle die Union nun die Bundestagswahl und eine neue politische Konstellation abwarten, um ab 2010 einen neuen Anlauf zu unternehmen. Er erwarte, dass der Koalitionsausschuss am Sonntag entsprechend die Weichen stellen werde, sagte Brunnhuber.

Im rechtsfreien Raum

In Österreich werden Streiks praktisch nie vor Gericht ausgetragen und – im Unterschied zu Deutschland – auch nicht gerichtlich untersagt. Warum? Weil es kein eigenes Gesetz dafür gibt. Daher fehlt auch die Judikatur. In Deutschland hingegen entscheiden Gerichte regelmäßig, ob ein Streik zulässig ist und verbieten Arbeitsausstände des öfteren – wie zuletzt im Fernverkehr der Deutschen Bahn. Theoretisch könnten sich Unternehmen auch in Österreich ans Gericht wenden, sagt Arbeitsrechtler Theodor Tomandl. Ein Streik sei immer "im rechtsfreien Raum", weil das Recht darauf nirgends explizit festgeschrieben ist. "Wir haben eigentlich kein Streikrecht, sondern Streikfreiheit." Das ist übrigens der Grund, warum Österreich gegen die EU-Sozialcharta (mit Streikrecht) Vorbehalte angemeldet hat. Laut Rechtsansicht des ÖGB sind Streikende angehalten, sich generell an Zivil-, Straf-, Grund- und Vertragsrecht zu halten. Außerdem darf mit Streik kein verbotenes Ziel verfolgt werden. Im Arbeitsverfassungsgesetz geregelt sind nur Betriebsversammlungen. Sie können gerichtlich untersagt werden. (DER STANDARD; Print-Ausgabe, 2./3.11.2007)