Immer leichter, immer unangestrengter: Ernst Augustin.

Foto: Robert Brembeck
"Ich war dabei!", telegrafierte aufgeregt eine deutsche Journalistin im Mai 1966 nach Deutschland. In Princeton, New Jersey, hatte die Gruppe 47 zu einem ihrer Treffen Station gemacht – und der Münchner Ernst Augustin hatte überwältigenden Zuspruch erhalten für sein Manuskript, das vier Jahre später unter dem Titel Mamma erschien. Doch sein Ruhm, so schildert es Augustin heute ironisch, währte genau drei Stunden. Bis ein "sehr junger Autor aus Graz", so der damals anwesende Reporter Dieter E. Zimmer, zu einer Rede ansetzte: "Peter Handkes großer Auftritt, ein Aufstand gegen so gut wie alles, was sich an Literatur und Kritik auf dieser Tagung präsentiert hatte, nicht sehr artikuliert zwar, selber Geschimpf, doch radikal gemeint".

Der Roman Mamma um die Schicksale eines Drillingsbrüderpaares war 1970 Gesprächsthema auf der Frankfurter Buchmesse. "Es wird wieder erzählt", lautete die Parole, die bereits der Klappentext des Buches (2007 in revidierter Form als Schönes Abendland neu veröffentlicht) annoncierte. Doch wiederum fanden weder Buch noch Autor den entsprechenden Nachhall. Es sollte eine ganze Autoren-Generation benötigen, bis immer mehr der nachstrebenden Schrift-stellerinnen und Schriftsteller, der diesjährige Büchnerpreisträger Martin Mosebach ebenso wie der diesjährige aspekte-Preisträger Thomas von Steinaecker, das heute neun Romane und einen Erzählband umfassende Werk Ernst Augustins preisen und schätzen. Und zwar wegen der immer leichter, immer unangestrengter gewordenen, immens plastischen Sprache, die in ihrer kunstvollen Kunstlosigkeit unverwechselbar ist. Wegen der phantasmagorischen, sich schier überstürzenden Ereignisse, von denen berichtet wird in Romanen wie Mahmud der Bastard (1992, Neuausgabe 2003), Der amerikanische Traum (1989/2007) oder Eastend (1982/2005). Wegen der traumhaften Ambivalenz der so absichtslos daherkommenden und doch so raffinierten spielerischen Konstruktion von Büchern wie Die Schule der Nackten (2003), einem wissenschaftsparodistischen Erotikon.

Ernst Augustin ist ein großartiger Magier des Grotesken – und zugleich grotesk unterschätzt. Diesem Spezialisten für Grenzüberschreitungen aller Arten, ob in der Hirnschale, in der Zeitgeschichte oder im erotischen Diesseits, gelingt der Schritt vom Alltag zum Albtraum mit nur wenigen Worten. Tiefen Ernst und närrischen Schalk spinnt er zusammen mit farbenfroh irisierendem Erzählgarn auf ernstem Grund.

Den Roman Der amerikanische Traum begann er als Hammett-Hommage – und daraus ward ein Lobgesang auf die Fiktion: Ein 1944 von einem britischen Tiefflieger tödlich verletzter Junge erträumt sich in den letzten Lebenssekunden die haarsträubend spannenden Abenteuer um einen Detektiv namens Hawk Steen. Und Badehaus Zwei (2006) beginnt als Geschichte eines Erbschleichers, der die Identität eines Mitreisenden annimmt und als Verlorener Sohn zum reichen Schein-Vater zurückkehrt. Doch weit gefehlt, dass sich hieraus ein Schelmenroman entwickelt. Vielmehr wird ein schnell undurchschaubares Wechselspiel der Perspektiven und Identitätszuschreibungen, rastloser Aufbrüche und Ankünfte inszeniert, dem ein Schreckenskabinett eingeschrieben wird, zu dem das Badehaus mutiert. Am Ende liegt eine verträumt-wasserbenebelte Parabel der Schrecken des 20. Jahrhunderts vor. Ernst Augustin ist ein Erzähler mit einem ganzen Arsenal fliegender Teppiche. Diesem Arzt, der 1958 aus der DDR floh, drei Jahre in Afghanistan lebte und sich 1962 als psychiatrischer Gutachter in der bayerischen Landeshauptstadt niederließ, der immer wieder Weltreisen unternahm und Wohnsitze in London und New Orleans hat, ist die Autobiographie nur das Trampolin gewesen für seine Bücher. Er gehört zur Spezies der auftürmenden Kolossalbaumeister der Literatur, was auch nachdrücklich sein eigenes Wohnhaus nahe des Schlosses Nymphenburg in München belegt.

Bis in die Nacht hinein Salsa

Jedem Leser ist das Gebäude aus Ernst Augustins vielleicht bestem Roman Raumlicht: Der Fall Evelyne B. (1976/2004) bekannt: keine drei Meter breit, dafür mehr als 20 Meter tief, und im Inneren nicht nur von seiner Frau Inge mit Trompe-l’Œil-Bildern farbenfroh ausgemalt, sondern auch derart verschachtelt, dass schon mancher Gast bei all den Haupt-, Halb-, Zwischen- und versteckten Geschossen und Räumen die Orientierung verlor, mit einem Palmendachgarten und einem von ihm eigenhändig eingebauten, voll verspiegelten Discosaal mit großer Lichtorgel im Tiefgeschoss, das sich auf Nachfrage als Parterre entpuppt.

Das deutsche Magazin Der Spiegel meinte vor vier Jahren: "Ernst Augustin zählt zu den Siebzigjährigen, mit denen die deutsche Literatur jung bleibt." An Hand der schön gestalteten und mit hinreißenden Schutzumschlägen, Ausschnitten aus Gemälden Inge Augustins, versehenen Fast-Gesamt-Ausgabe – nur Der Kopf und Gutes Geld fehlen –, lässt sich überprüfen, welche Ein- und Ausblicke seine Romane gewähren, welche Motive von Anfang vorhanden sind und späterhin variiert werden.

Wie begeht ein solch springlebendiger Autor seinen 80. Geburtstag, der vergangenen Dienstag in den Räumlichkeiten seines Verlages gefeiert wurde? So wie Thomas Mann, der als Redner in Stuttgart und Weimar das geteilte Deutschland via Kultur einte? Oder so wie dieser Tage Günter Grass, der sich zum Geburtstag eine Imitation eines Staatsaktes schenken ließ? Nicht so der leidenschaftliche Tänzer Ernst Augustin, dessen Vorgabe lautete: eine ganz kurze Rede des Verlegers, danach bis in die Nacht hinein Salsa! Zum Glück hat Peter Handke erst im Dezember Geburtstag. (Alexander Kluy, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 03./04.11.2007)