"Nur eine einzige Tablette" - ein Fernsehfilm arbeitet den größten Skandal in der Geschichte der pharmazeutischen Industrie auf. Die Contergan-Herstellerfirma Grünenthal wehrte sich gegen die Ausstrahlung.

Foto: WDR/Willi Weber
Im Oktober 1957 kam Contergan auf den Markt. Das Schlaf- und Beruhigungsmittel war rezeptfrei und verkaufte sich blendend. Schließlich war es bekömmlicher als die damals üblichen Barbiturate. Doch Contergan hatte eine schreckliche Nebenwirkung: Frauen, die es während der ersten drei Schwangerschaftsmonate einnahmen, brachten verkrüppelte Kinder zur Welt.

Verbannter Wirkstoff

Dass der Wirkstoff Thalidomid den Wachstumsfaktor VEGF hemmt, der in einem frühen Stadium des Embryos die Ausbildung der Arme und Beine leitet, wurde erst viel später deutlich. Zunächst wurden nervliche Störungen berichtet und das Medikament in einigen Kliniken aus den Apotheken verbannt.

1961 leistete der Hersteller Grünenthal einigen Patienten, die Nervenschäden berichteten, Schadenersatz. Zur gleichen Zeit häuften sich aber Hinweise auf die Schädigung von Babys, die von einem Arzt namens Widukind Lenz verdichtet wurden. Als der Skandal öffentlich wurde, war der Rückzug des Präparats bereits vorbereitet. Am 27. November 1961 nahm die Aachener Pharma- und Seifenfirma Grünenthal ihr bestverkauftes Produkt vom Markt.

Fragen

Etwa zehntausend Contergan-geschädigte Kinder wurden in jenen Jahren geboren. Hatte der Hersteller die Warnungen zu lange ignoriert? Musste die Zulassung von Arzneimitteln strenger geregelt werden? Gab es zuverlässigere Sicherheitstests?

Dass Heinrich Mückter, der die Entwicklung von Thalidomid leitete, während des Kriegs an Menschenversuchen mit KZ-Häftlingen beteiligt gewesen war, warf ein schiefes Licht auf Grünenthal. 1968 wurde der Firma ein Gerichtsverfahren eröffnet. Es endete unter politischem Druck mit einem Vergleich. Die deutsche Industrie, die einen Präzedenzfall für Produzentenhaftung gefürchtet hatte, atmete auf.

Beschwichtigung

Für die Rücknahme der Klage zahlte Grünenthal 100 Millionen Mark in eine Stiftung ein, die überlebenden Opfern in Deutschland eine Leibrente ausschüttet. Längst wird sie allein aus staatlichen Mitteln finanziert, während die Firma prosperiert und das Vermögen der Eigentümerfamilie Wirtz auf Milliarden geschätzt wird.

Ein Fernsehfilm über den Arzneimittelskandal sollte bereits im vorigen Jahr gezeigt werden. Die Handlung folgt einem Rechtsanwalt, dessen Tochter verkrüppelt auf die Welt kommt. Er schart die Familien weiterer Contergan-Opfer um sich und bringt den Hersteller des Medikaments vor Gericht.

Gegen Ausstrahlung

Sowohl Grünenthal als auch der Anwalt Karl-Hermann Schulte-Hillen, auf dem die Filmfigur beruht, fühlten sich verzerrt dargestellt. Gemeinsam erreichten sie vor dem Landgericht Hamburg eine einstweilige Verfügung gegen die Ausstrahlung. Die Produktionsfirma und der Sender WDR wehrten sich gegen die Zensurversuche. Das Verfahren ging ans Bundesverfassungsgericht, das vor zwei Monaten im Sinne der Rundfunkfreiheit entschied. Eine um dreißig Sekunden gekürzte und um eine Szene ergänzte Fassung des Zweiteilers wird nun ausgestrahlt.

Im Gegensatz zu Europa stand in den USA die Arzneimittelzulassung um 1960 bereits auf solideren Füßen. Eine Mitarbeiterin der Zulassungsbehörde FDA namens Frances Kelsey wurde bei Durchsicht der zu Thalidomid eingereichten Studien misstrauisch. Weil die schlaffördernde Wirkung bei vielen Tieren ausblieb, zweifelte sie an der Aussagekraft der auf Tierversuchen basierenden Sicherheitsdaten. Mit ihrem Beharrungsvermögen bewahrte sie hunderte Babys vor Fehlbildungen.

Revival

Dass Thalidomid damit nicht ein für alle Mal im Orkus der missratenen Medikamente landete, ist dem israelischen Dermatologen Jacob Sheskin zuzuschreiben. 1964 verabreichte er einer Leprakranken Tabletten aus einem Restbestand. Binnen Tagen bildeten sich die Geschwüre zurück. Damit begann der verrufene Wirkstoff ein stilles Comeback in der nicht industrialisierten Welt.

Falsch verstanden

Am längsten im Einsatz ist Thalidomid in Brasilien. Die Packungen sind wegen der vielen Analphabeten mit einem Piktogramm versehen, das eine schwangere Frau mit einem durchkreuzten Bauch zeigt. Was als Warnung vor dem Gebrauch durch werdende Mütter gemeint ist, deutet manche Frau jedoch ganz anders, nämlich als Abtreibungsmittel. So kamen in Brasilien weiterhin Kinder mit verkrüppelten Gliedmaßen zur Welt.

Neue Einsatzbereiche

Da Thalidomid die Bildung von Blutgefäßen hemmt, ist es auch gegen Aids und Krebs erprobt worden. Die Firma Celgene hat den Wirkstoff wieder auf den Markt gebracht und in den USA, Australien, Neuseeland und einigen asiatischen Ländern seine Zulassung erreicht. Neben Lepra kommt Thalidomid zunehmend in der Behandlung des Multiplen Myeloms, einer Blutkrebsart, zum Einsatz. In Europa muss das bislang unter der Ausnahmeregelung für eine lebensbedrohliche Erkrankung geschehen, weil der Zulassungsprozess unterbrochen wurde. Aus Rücksicht auf die Opfer von Contergan. (DER STANDARD, Printausgabe, Stefan Löffler, 5.11.2007)