Fjodor Lukjanow: "Amerika ist der größte Motor der Militarisierung in der Welt. Das verstehen wir. Aber wir verstehen all diese europäischen Feinheiten und Details nicht."

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„Ich glaube, Putin liebt Europa, aber er verachtet es auch“: der Kreml-Chef beim jüngsten EU-Russland-Gipfel.

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Fundamentale Auffassungsunterschiede, aber auch europäische Doppeldeutigkeiten bestimmen Russlands Verhältnis zu Europa. Der renommierte politische Kommentator Fjodor Lukjanow ergründet im Gespräch mit Eduard Steiner russische Befindlichkeiten.

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STANDARD: Zwischen dem Westen und Russland reibt es sich derzeit auf allen Ebenen. Nur ein Stichwort: der Gifttod des ehemaligen russischen Geheimdienstagenten Alexander Litwinenko in London.

Lukjanow: Ich verstehe auch nicht, was in dieser Sache vor sich ging: wer Litwinenko getötet hat; wer Andrej Lugowoj (von Großbritannien des Mordes an Litwinenko beschuldigt, Red.) ist; wer Litwinenko in Wahrheit war. Was mich noch erschütterte: In ganz Europa leben in verschiedenen Ländern Ex-Agenten des KGB und haben die Staatsbürgerschaft, treiben dort irgendein Business. Ich frage: Wie haben sie die bekommen? Ich würde sie nicht bekommen.

STANDARD: Man muss ja kein Freund des Kremls sein, aber wenn die Briten verlangen, Russland solle seine Verfassung ändern, damit man Lugowoj ausliefern kann ...

Lukjanow: ... so ist das jenseits von Gut und Böse. Mir scheint, Russland hat einen Bumerangeffekt ausgelöst. Es hat erreicht, dass sein Stil der Außenpolitik, etwa gegenüber Georgien, jetzt auch woanders üblich geworden ist.

STANDARD: Also keine Osterweiterung europäischer Standards, sondern eine Westerweiterung östlicher Muster und Stile?

Lukjanow: Der Beitritt der zentral- und osteuropäischen Länder hat das politische Klima in der EU verändert. Die Kopenhagener Kriterien (im Wesentlichen Demokratie und Marktwirtschaft, Red.) wurden von den Beitrittsländern ja noch mehr oder weniger erfüllt.

Aber die mentale Bereitschaft der politischen Elite entspricht nicht jenen Prinzipien, die in Europa üblich sind. Zum Wesen der EU gehört, dass man die entsetzliche Geschichte mit ihren Konflikten hinter sich lassen wollte und diese nicht mehr für die moderne Politik instrumentalisiert.

STANDARD: Sie spielen auf Polen an?

Lukjanow: Wenn die Brüder Kaczynski erklären, ohne Zweiten Weltkrieg hätte Polen 66 Millionen Menschen, dann ist das genau das Gegenteil von dem, was Europa erreichen wollte. Es ist schwer, die neuen Mitglieder dafür zu verurteilen, denn sie sind und denken anders. Das Zweite ist: Polen und Balten brachten in die EU ein neues Verständnis von Solidarität, und zwar: Wenn irgendein Mitgliedsland in Konflikt mit einer äußeren Kraft (nämlich Russland) kommt, muss die EU dieses Land unterstützen.

STANDARD: Russland hat mit seinem Benehmen aber schon auch den Anlass geliefert.

Lukjanow: Ja. Und das Verhalten der EU ist ja durchaus richtig, aber eben auch gefährlich. Denn bei den Ländern Osteuropas und des Baltikums besteht eine große Verlockung, das immer als Mittel einzusetzen. Sie ziehen Russland in diese europäische Politik hinein, weil sie mit Russland immer irgendeinen Dialog, meist in Konfrontation, führen.

Und die Involvierung Russlands bedeutet, dass dieses historische Moment immer nur verstärkt wird. Denn Russland lebt in einer anderen Epoche und versteht die Prinzipien der modernen europäischen Kultur überhaupt nicht: Kompromissfähigkeit, endlose Koordination und Harmonisierung, Vermeidung von Konflikten. Russland als wiedererstehendes Land will nur seine Interessen hart durchdrücken.

STANDARD: Ist ja wohl legitim.

Lukjanow: Nun, das Verhältnis zu Europa ist völlig in der Sackgasse. Russland wollte die Wertediskussion abwürgen und das Verhältnis ausschließlich auf Grundlage der Interessen aufbauen. Im Herbst 2005 wurde mit dem Beschluss, die Nordstream-Pipeline zu bauen, eine Periode eingeleitet, wo die EU Russland nicht mehr kritisierte und bei allen Besuchen Putins in Europa nur vom Gas geredet wurde.

Ende 2006 (Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja und an Litwinenko, Red.) zeigte sich, dass dem Verhältnis etwas fehlte. Die Gaspipeline allein kann alle Probleme, die bestehen, nicht tragen. Und Russland will ja selber diese Werte, zumindest vom Zugang her: Als Estland heuer das Sowjetdenkmal und die Soldatengräber verlegte, hat Russland sich an Europa gewandt und an die Werte appelliert.

STANDARD: Verstehen Russland und Europa das Gleiche darunter?

Lukjanow: Innerhalb der EU haben selbst die so unterschiedlichen Finnen und Griechen ein einheitliches Verständnis davon, wie moderne Politik und ein Rechtsstaat funktionieren. Wenn man in Russland über Werte redet, schweift man sofort weit ab und redet von einem christlich-orthodoxen Erbe, einem speziellen russischen Weg. Andererseits fühlt man sich seit 300 Jahren von Europa angezogen und weicht dann wieder zurück. Das wird so weitergehen.

Und überhaupt sehe ich den Geist der historischen Konfrontation zurück: Remilitarisierung, Zuspitzung der Konkurrenz um die Energie, Widersprüche zwischen den Religionen, Auftauchen neuer großer Mächte (China, auch Russland, Iran, Kasachstan). STANDARD: Die Ukraine aber hat ein einen entschlosseneren Schritt Richtung europäisches Demokratiemodell gesetzt.

Lukjanow: Ja, titanische Anstrengungen, um von der russischen Einflusssphäre auszubrechen. Aber die EU hat ihr Potenzial erschöpft und kann nicht alle, die hin wollen, aufnehmen. Die orange Revolution passierte unter der Losung der europäischen Wahl. Und als die Demokratie gewann, machte Europa die Tür zu. So begann in der Ukraine das Problem. Sie weiß jetzt nicht, wo sie hin soll.

STANDARD: Sicherheitspolitisch bauen die Mittel- und Osteuropäer auf die USA.

Lukjanow: Aus Angst vor Russland, das übrigens einen sehr großen Fehler macht, Europa in den Disput um den Raketenschild hineinziehen zu wollen. Russland glaubt, Europa habe Angst und bremse daher Amerika. Das Gegenteil ist ja der Fall: Ja, Europa fürchtet sich, aber wenn es sich fürchtet, sucht es Hilfe bei den USA. Und wenn Russland Europa weiter so verschreckt, dann enden wir in einer Rückkehr zum alten Modell.

STANDARD: Der Westen hat in Russland kein eindeutiges positives Image mehr?

Lukjanow: Das liegt in der Politik des Westens nach dem Fall der Sowjetunion. Eigentlich hätte es zwei Modelle gegeben: Entweder einen zweiten Marshall-Plan mit richtig teurer Finanzierung der Reformen oder überhaupt keine Einmischung. Gewählt hat man ein Zwischenmodell. Die Folge: Die Hilfe war viel zu klein, um ernsthaft Einfluss zu nehmen. Aber sie war zu groß, als dass man sie einfach abtun könnte.

Die Bevölkerung hat nun aber das Gefühl, dass sie sich zwar alleine herauswinden musste, dass aber alles nach dem Diktat des Westens stattfand. Jetzt haben wir das Gefühl, dass wir uns entwickeln, wie wir wollen. Es herrscht der Geist, dass wir uns selbst genug sind, alles wissen und können und nichts brauchen. STANDARD: Bleibt der Westen für Russen attraktiv?

Lukjanow: Als Standard eines Lebensniveaus ja und als Muster einer im Allgemeinen richtigen und effizienten Staatsordnung und eines sozialen Modells. Was das westliche Modell wirklich bedeutet, verstehen nur ganz wenige, denn wir gehen leider wieder auf eine traditionelle Matrix des Paternalismus über. Auf jeden Vorwurf Richtung Russland sagt man, dass bei euch drüben ja das gleiche stattfindet.

Gerhard Schröder (deutscher Ex-Kanzler) ist die Bestätigung für unsere Elite, dass die im Westen dort die gleichen sind wie wir hier, nämlich Heuchler; dass sie zwar das eine sagen, aber wenn wir mit dem Geld kommen, werden sie wie wir. Nebenbei stellen sie militärisch nichts dar. Ich glaube, (Präsident Wladimir) Putin liebt Europa, aber er verachtet es auch.

STANDARD: Amerika achtet man mehr, weil es entschlussfreudiger ist, während Europa diskutiert?

Lukjanow: Natürlich. Wir und Amerika leben in einem ähnlichen System von Vorstellungen. Amerika ist auch ein Land, das vor allem auf Macht und Stärke aus ist. Amerika ist mit seinem Militärbudget von 700 Milliarden Dollar der größte Motor der Militarisierung in der Welt. Das verstehen wir. Aber wir verstehen all diese europäischen Feinheiten und Details nicht. Wir wollen handeln wie die Amerikaner und uns auch nur an die Verträge halten, die vorteilhaft sind.

STANDARD: Die EU-Außengrenze verläuft ja im Groben an der Trennungslinie zwischen Orthodoxie und Katholizismus.

Lukjanow: Bei der EU-Ostgrenze ist es nicht das religiöse, sondern das geopolitische Problem. Selbst unsere Revanchisten wollen die baltischen Länder nicht zurückholen. Aber die Ukraine und Weißrussland gelten bei uns als unsere Länder. Wo diese Länder in 50 Jahren stehen, weiß ich nicht. Vor zwei Jahren hätte ich gesagt, dass Russlands Grenzen feststehen. Jetzt scheint mir wieder alles möglich, und zwar nicht, weil Russland so stark geworden wäre, sondern weil ich sehe, dass andere Mächte diese Länder nicht aufnehmen können. (DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2007)