Unter diesem Titel erschien 1999 ein Essayband des herausragenden amerikanischen Historikers Fritz Stern vom Schweigen und vom Wegsehen, gepaart mit Verlogenheit in der deutschen Gesellschaft am Vorabend der Vertreibung und Vernichtung des deutschen Judentums.

Stern, der Deutschland als zwölfjähriges Kind jüdischer Eltern 1938 verließ, hat kürzlich auch seine Erinnerungen vorgelegt. Fast gleichzeitig wurde der aus Prag gebürtige israelische Historiker Saul Friedländer für sein ergreifendes Werk über die Shoah mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Der Laudator betonte, Friedländer habe das Schweigen der aus dem Dunkel der Vergangenheit auftauchenden Menge der Zuschauer, ohne die öffentliche Gewalt niemals geschieht, als einen handelnden Faktor belegt.

Vor diesem Hintergrund bleibt der Beobachter fassungslos, wenn man etwa die Nachrichten der letzten Tage aus Prag und Belgrad, Antwerpen und Budapest liest. So wurden auf dem Stand eines serbischen Verlags bei der internationalen Buchmesse in Belgrad das üble antisemitische Machwerk "Die Protokolle der Weisen von Zion" oder ähnliche Publikationen ("Das Serbentum in den Krallen der Juden") ausgestellt. Die jüdische Gemeinde forderte vergeblich, die antisemitischen Publikationen, die auch in vielen Buchhandlungen in Serbien angeboten werden, zu entfernen.

Aggressive Nationalisten und Teile der serbischen orthodoxen Kirche schüren die Judenfeindschaft, die staatliche Institutionen verhalten sich passiv.

Im Gegensatz zur Passivität der Belgrader Behörden hatte sich der sozialistische Bürgermeister von Antwerpen diese Tage offiziell für die Rolle der Antwerpener Behörden bei der Judenverfolgung der deutschen Besatzer entschuldigt. Daraufhin griff ihn der Chef einer rechtsgerichteten flämischen Nationalistenpartei, Bart de Wever, scharf wegen der "unnötigen Geste" an, mit der Begründung, die jüdische Gemeinde und Israel hätten den Holocaust missbraucht. Führende belgische Politiker waren empört über diese Verharmlosung der Kollaboration mit den Nazis.

In Prag wollen tschechische und ausländische Neonazis am 10. November, dem 69. Jahrestag der berüchtigten Reichskristallnacht, durch das jüdischen Viertel marschieren. Das ursprünglich von der Stadtverwaltung erlassene Verbot wurde mittlerweile vom städtischen Gericht aufgehoben. Staatspräsident Václav Klaus appellierte an alle Beteiligten den Umzug zu untersagen, er weise Passivität in dieser Frage zurück, die Geschichte dürfe sich nicht wiederholen.

Anders liegen die Dinge in Ungarn, mit der größten jüdischen Gemeinde in Mitteleuropa. Wie der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung kürzlich schrieb, pflege die aggressive und umfangreiche Neonazi-Szene in Ungarn den extremsten Antisemitismus in Osteuropa.

Jüngstes Beispiel: am 23. Oktober, dem Gedenktag der 1956er-Revolution, im Herzen der Haupstadt eine offen antisemitische, rassistische öffentliche Veranstaltung von dem einschlägig bekannten reformierten Pastor Lorant Hegedüs jun. organisiert.

Fünfundzwanzig angesehene Theologen und Wissenschafter forderten daraufhin in einem offenen Brief die Kirchenführung auf, das verachtenswerte üble Spektakel vor der reformierten Kirche am Freiheitsplatz in aller Form öffentlich zu verurteilen. Der zuständige protestantische Bischof und seine Kollegen aber schweigen.

Immer häufiger spielen die überlebenden ungarischen Juden - so wie in den Dreißigerjahren - die Rolle des Aggressionsobjektes für die Wut des Pöbels, ohne dass der alt-neue Antisemitismus allgemeine Empörung hervorriefe. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2007)