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"Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen, mit einem gewöhnlichen Arschin (Längenmaß) nicht zu vermessen", meinte der Dichter Fjodor Tjutschew: Russische Nationalisten jüngst bei einer Demonstration in Moskau.

Foto: AP/Semlianitschenko
Studien zur Mentalität belegen, dass die Russen etwa in der Mitte zwischen östlicher Obrigkeitshörigkeit und westlichem Individualismus angesiedelt sind. Im Innern des Riesenreiches herrschen freilich regional große Unterschiede.

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Wie die Sprache, so das Land und seine Menschen. Russland erschließt sich nicht so leicht. Das wusste schon der große russische Poet Fjodor Tjutschew. In seinem berühmten Vierzeiler hat er verdichtet, was viele empfinden. An Russland könne man lediglich glauben, meinte er, denn: "Mit dem Verstand ist Russland nicht zu fassen. Mit einem gewöhnlichen Arschin (russisches Längenmaß) nicht zu vermessen."

Versuche, die legendenumwobene russische Psyche auszuloten, jedenfalls aber der nationalen Mentalität auf den Grund zu gehen, werden dennoch unternommen. Als Pionier der Mentalitätsvermessung gilt der niederländische Psychologe und Soziologe Geert Hofstede, der Dutzende Länder teils über die Mitarbeiter multinationaler Unternehmen empirisch untersucht und dabei ein Ordnungssystem mit fünf Faktoren herausgefiltert hat: Distanz zur Macht (sprich der Hang, Vorgesetzte unterwürfig zu vergöttern); Individualismus (Prädisposition zur persönlichen Verantwortung); Vermeidung von Unbestimmtheiten (Bereitschaft, nach unklaren Regeln zu agieren); Maskulinität (die Haltung, ein Ergebnis um jeden Preis zu erzielen); langfristige Orientierung (Fähigkeit, sich an strategischen Zielen zu orientieren). Die gewonnenen Daten werden auf Werteskalen übertragen. Die Indikatoren beziehen sich zwar auf das Arbeitsverhalten, gründen jedoch im Allgemeinmenschlichen.

Hierarchien zugetan

Was Russland betrifft, so ist Hofstede bei seinen zwei großen Untersuchungen 1980 und 2000 zum Ergebnis gekommen, dass seine Menschen in vielem den Bewohnern östlicher Länder näher sind als dem Westen. Am meisten sichtbar war dies an den wichtigen Faktoren "Distanz zur Macht" und "Individualismus". Hofestedes Umfrage ergab, dass Russen 93 von 100 möglichen Punkten erreichen, wenn es um hierarchische Ehrerbietung geht, jedoch nur 39 Punkte in Sachen Individualismus.

Dies deckt sich im Übrigen weitgehend mit den Berichten westlicher und russischer Unternehmen, denen zufolge russische Mitarbeiter zur Unselbstständigkeit und Entscheidungsschwäche neigen und gewöhnlich eher auf das Brüllen der Vorgesetzten reagieren als anderweitig Motivation zu finden. Was die anderen Faktoren Hofstedes betrifft, so wollen Russen nicht um jeden Preis ihr Ziel erreichen (36 Punkte) und haben eine bescheidene langfristige Orientierung (49 Punkte). In diesen Parametern weisen östliche und westliche Bevölkerungen allerdings teils ähnliche Resultate auf.

Zu einem etwas anderen Ergebnis, das kürzlich in der russischen Ausgabe der Harvard Business Review publiziert wurde, kommen die russischen Wissenschafter Juri Latow und Natalja Latowa. Sie, die sich zwar auf Hofstedes Methode stützen, haben bei ihren Untersuchungen im Jahr 2004 - ähnlich wie Transformationssoziologen der Akademie der Wissenschaften 2002 - herausgefunden, dass der Ehrfurchtswert vor Vorgesetzten bei 50 Punkten liegt, was zwar die Europäer übertrumpft, jedoch hinter dem Osten zurückliegt. Auch in Sachen Individualismus liegt man ziemlich genau zwischen westlicher und östlicher Einstellung.

Die Wissenschafter, die in der Moskauer Wirtschaftshochschule lehren und an der Akademie der Wissenschaften forschen, kommen überdies zum Ergebnis, dass die Mentalität in einzelnen russischen Städten bzw. Regionen auffällig variiert. So stößt man in der südrussischen Stadt Stawropol auf eine gemäßigte östliche Mentalität, während sich in östlichen Regionen wie der sibirischen Ölförderstadt Tjumen Leute mit weitgehend westlicher Mentalität ansiedelten. Die Forscher erklären dies geschichtlich mit der Besiedelung der Gegend durch religiöse Nonkonformisten, politische Exilanten und individualistische Bauern im 17. Jahrhundert. Auch die Sowjetherrscher haben etwa für den Bau der Baikal-Amur-Bahn im Osten des Landes ausgewiesene Individualisten herangezogen. Bei deren Nachfahren hielt sich auch der Charakterzug, ein Ziel (Ölförderung, Pipelinebau) um jeden Preis zu erreichen.

Wie Latow und Latowa darlegen, seien die Untersuchungen sowohl für die Regionalpolitik als auch für innerbetriebliche Politik russischer oder internationaler Konzerne relevant. Die Daten würden es ermöglichen, ein regional und territorial adaptiertes Motivationssystem und eine effizientere Organisation der Ausbildung zu erstellen. (Eduard Steiner aus Moskau/DER STANDARD, Printausgabe, 8.11.2007)