Wien – Dicker Stamm, zerfurchte Rinde, knorrige Äste: Nur wenige Wiener Stadtbäume haben die Zeit, sich Alterserscheinungen zuzulegen. Die meisten fallen vorher einem Bauprojekt, einem Sturm oder der Luftverschmutzung zum Opfer.

Die 25 Meter hohe Pappel auf dem Gelände des ehemaligen Aspangbahnhofes im dritten Bezirk ist eine Ausnahme. Wie lange sie da schon steht, kann niemand genau sagen, dank Zeitzeugen weiß man aber, dass sie schon da war, als in den Jahren 1941 und 1942 von hier aus mehr als 45 000 Menschen in Konzentrationslager deportiert wurden. Der Großteil der jüdischen Wiener, die die Nazis hier in Zugwaggons pferchten, wurden nach Auschwitz oder Theresienstadt verschleppt, einzelne Züge gingen auch nach Buchenwald, Dachau und Sobibor.

An die Pappel am Rand des ehemaligen Bahnhofsgeländes können sich die wenigen Vertriebenen, die den Nazi-Terror überlebt haben, noch gut erinnern, er hat sich als "Baum der Tränen" in ihr Gedächtnis eingebrannt: Unter der Pappel saßen viele Familien ein letztes Mal zusammen, bevor sie von den Nazis brutal auseinandergerissen wurden – die meisten sahen sich hier zum letzten Mal.

Das Bahnhofsgelände ist heute eine Gstätten. Ab kommendem Jahr soll hier Europas größte Passivhaussiedlung entstehen. Was gleichzeitig das Ende des rund 70 Jahre alten Baumes bedeuten könnte. Zumal die Bauarbeiten auf dem Gelände nicht spurlos an ihm vorbeigegangen sind. Die Landstraßer Grünen, stolz, dass in ihrem Bezirk eine ökologisch einwandfreie Siedlung realisiert wird, fordern nun, dass der Baum ins Wohnprojekt integriert wird. "Er muss als Mahnmal stehenbleiben", sagt Eva Lachkovics, Klubobfrau der Grünen in Landstraße. Die Frage, warum nicht schon längst eine Tafel auf die zeitgeschichtliche Bedeutung des Baumes hinweist, kann auch sie nicht beantworten: "Das mit den Gedenktafeln ist eine sehr mühselige Sache. Außerdem wurde erst im Zuge der Planung des Bauprojekts, als man mit Zeitzeugen gesprochen hat, klar, wie wichtig dieser Baum ist."

Nachbarn auf der Spur

Eine Gedenktafel, die an die Vertreibung der jüdischen Bewohner erinnert, wurde am Haus Nummer 6 in der Servitengasse in Wien-Alsergrund schon vor Jahren angebracht. Eine Gruppe von Menschen, die heute im Bezirk leben, haben die Geschichte der ehemaligen Bewohner aufgerollt. Im Buch "1938: Adresse Servitengasse. Eine Nachbarschaft auf Spurensuche" (Mandelbaum Verlag) halten sie die Geschichte der Bewohner des Ortes, jüdisch und nicht-jüdisch, fest. Die Historikerinnen und Herausgeberinnen Birgit Johler und Maria Fritsche haben die Recherchen wissenschaftlich begleitet und sind auf wenig Ruhmreiches gestoßen. Meldezettel und Wohnungs-Reservierungen, von der damaligen Hausmeisterin unterschrieben beziehungsweise entgegengenommen, dokumentieren, dass "die Bevölkerung sehr wohl wusste, was bei der Machtergreifung der Nationalsozialisten vor sich ging", sagte Johler. Das bestätigen auch Zeitzeugen.

Teilweise wurden überwiegend von Juden bewohnte Häuser zu Sammelwohnungen und -lagern umfunktioniert, von dort aus wurden die Menschen in Konzentrationslager verschleppt. Ihre Vertreibung aus den angestammten Wohnungen hatte schon vor der "Reichskristallnacht" vom 9. auf den 10. November 1938 begonnen. Die Parteifunktionäre, beziehungsweise deren Freunde und Familien, richteten sich gleich darauf in den frei gewordenen Wohnungen ein.

Am Gedächtnis-Projekt Servitengasse war auch eine Gruppe von Studenten der Universität für Angewandte Kunst Wien beteiligt. Sie werden einen Glaskasten beisteuern, in dem sich Schlüssel mit Namensanhängern befinden. (Marijana Miljkoviæ, Martina Stemmer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 9. November 2007)