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Am Ende ratlos und verzagt: Astrid Lindgren schrieb mit ihren Kinderbüchern gegen Zustände an, die ihr immer grausiger erschienen.

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Nach einer Lesung vor Kindern muss eine Kinderbuchautorin Kinderfragen beantworten, und hat sie brav erzählt, woher sie ihre Einfälle nimmt, ob sie Kinder, Enkel, Katze, Hund, Haus und Ehemann ihr Eigen nennt, wie viele Seiten ihr dickstes Buch hat, wer ihre Vorbilder sind und ob man vom Bücherschreiben denn auch leben kann, kommt sehr oft die Frage: "Haben Sie Astrid Lindgren gekannt?" (Kann auch heißen: "Kennen Sie Astrid Lindgren?", weil Kinder Menschen, die sie mögen, nicht gern sterben lassen).

Antworte ich, dass ich Astrid Lindgren gekannt habe, fragt garantiert eines der Kinder: "War sie so lustig wie Pippi Langstrumpf?"

Dann lege ich die Stirn in Falten, blicke sinnend und frage retour: "Ist denn Pippi Langstrumpf ein lustiges Kind?" "Na sicher!", rufen hierauf alle Kinder, aber ich gebe zu bedenken: "Pippis Mama ist ein Engel im Himmel, also tot. Pippis Papa ist ein Negerkönig und segelt auf den Weltmeeren herum und schert sich wenig um Pippi, dauernd muss sie Sehnsucht nach ihm haben, und alle erwachsenen Leute, mit denen sie es zu tun bekommt, mögen sie überhaupt nicht und sind eklig zu ihr. Viel Grund, lustig zu sein, hat sie also eigentlich nicht." (Falls Political-Correcten der "Negerkönig" missfällt: Als Lindgren Pippi Langstrumpf schrieb, war dieses Wort ohne Tadel, und sie war dafür, es zu behalten).

"Pippi ist aber trotzdem lustig!", beharren die Kinder. Und dann einigen wir uns darauf, dass es auf das "trotzdem" ankommt und dass jemand sehr tapfer sein muss, wenn er es schafft, lustig zu sein, wo andere ihr Unglück beweinen und mit ihrem Schicksal hadern würden.

Vor allem tapfer

So verschieden Astrid Lindgrens Buchhelden auch sein mögen, eines sind sie alle und vor allem: tapfer. Die Frechen wie die Ängstlichen, die Starken wie die Schwachen, die Einsamen wie die Geselligen, die Geliebten wie die Ungeliebten, die Gesunden wie die Todkranken.

Sogar einer wie Karlsson vom Dach, der den kleinen Lillebror heimsucht, ist irgendwie ein Tapferer. Streitsüchtig, arrogant, rasend schnell beleidigt und rotzunverschämt ist der kleine Mann mit dem Propeller auf dem Rücken, der sich für "die beste Erfindung der Welt" hält und von sich behauptet, "ein schöner, grundgescheiter, gerade richtig dicker Mann in den besten Jahren" zu sein. Womit er tapfer seiner körperlichen Mängel und seiner Einsamkeit im Kabäuschen zwischen den Rauchfängen von Stockholmer Mietshäusern trotzt und – so gut er es eben versteht – um die Zuneigung des kleinen Lillebror kämpft.

Ehrenwerte Literaturwissenschaftler haben uns diesen Karlsson als die "ungezähmte, ungezogene Seite" des kleinen, wohlerzogenen Lillebror erklärt. Mag ja sein! Aber Astrid Lindgren hat sich gewiss nicht hingesetzt und überlegt, wie sie einen kleinen Buben in eine gezähmte und eine ungezähmte Hälfte aufspalten könnte. Ihr ist einfach die Geschichte von einem lästigen Kerl eingefallen, der trotz allem das Herz eines kleinen Buben gewinnt.

Doch gelehrten Damen und Herren reicht so eine simple Erklärung klarerweise nicht, das würde sie ja brotlos machen, und darum ist kaum ein Lindgren-Buch der "tieferen Deutung" entgangen. Astrid Lindgren war es von Anfang an leid, sich zu den diversen Interpretationen ihrer Bücher zu äußern. Je nach Laune hat sie die Schmeichelhaften wie die Abfälligen milde lächelnd, achselzuckend oder seufzend hingenommen. Selbst gegen verbohrte, bornierte Kritiker hat sie sich nur selten zur Wehr gesetzt, obwohl oft reichlicher Anlass dazu gewesen wäre. Es war ja nicht immer so, dass ihre Bücher von allen gelobt und geliebt worden wären. Groß war das Entsetzen vieler Pädagogen und anderer kindertümlich befasster Personen, als im Jahr 1946 Pippi Langstrumpf erschien; wobei die gedruckte Pippi Langstrumpf ja bereits eine gewaltig "zensierte" Fassung gewesen ist. Die Ur-Pippi zu verlegen, hatte kein Verleger in Schweden gewagt. Zu ungehobelt, zu derb, sozial zu unverträglich, zu anarchistisch, und die Erwachsenen zu bösartig beschreibend war ihnen der Text erschienen.

Ur-Pippis Schlaflied, das sie sich selbst immer vorsingt, wurde zum Beispiel gestrichen. "Schlaf, Freundchen, schlaf, das Bier ist nämlich leer ..." hatte damals in einem Kinderbuch nichts zu suchen. Auch, dass die Ur-Pippi meint, für solch "kindische Sachen" wie zur Schule zu gehen, habe sie keine Zeit, musste weg. Und dass Pippi die normalen Kinder ein bisschen herablassend immer "karierte Kinder" nennt, fand man auch nicht passend. Gut die Hälfte der Ur-Pippi wurde, teils vom Verlag, teils von der Autorin selbst, auf " zahmer" zurechtgebügelt. Zur Empörung allerorten reichte die zahme Fassung aber immer noch.

Da schrieb etwa ein schwedischer Literaturwissenschaftler, Pippis Handlungen seien "geisteskrank, herzlos, unverantwortlich und nicht einmal komisch". Und drei Jahre später, als das Buch in Deutschland erschien, konnte man in "Bücherei und Bildung" lesen, das Buch verwirre die Kinder, indem es die Grenzen von Fantasie und Wirklichkeit verwische. Bis zum vierzehnten Lebensjahr müsse es Kindern, obwohl es sehr witzig sei, leider vorenthalten werden.

Übrigens mäkelten zwei Jahrzehnte später in Deutschland auch viele "linke" Pädagogen an Pippi Langstrumpf herum. Zu wenig gesellschaftskritisch sei dieses Buch, die Heldin zu individualistisch, zu bürgerlich. Sogar, dass sie eine Kiste voll Goldstücken besitze, wurde dem armen Kind vorgehalten.

Ist das Kindern zumutbar?

Aber zu dieser Zeit hatte Pippi Langstrumpf längst ihren Siegeszug rund um die Welt, übersetzt in siebenundfünfzig Sprachen, hinter sich. Weil sich Kinder gottlob nicht vorschreiben lassen, was ihnen zu gefallen hat. Als dann im Jahr 1973 Die Brüder Löwenherz erschien, ging eine ganz andere Sorte von Diskussion, aber nicht minder heftig, los. Selbst viele begeisterte Lindgren-Fans unter den Erwachsenen waren arg irritiert. In diesem Buch gibt es keinen lästigen Karlsson, keine witzige Pippi, keine liebe Madita, keinen Pechvogel Michel, keinen cleveren Kalle, keinen ungeliebten Mio, keine netten Kinder aus Bullerbü, sondern einen todkranken Krümel Löwenherz und Welten voll Gewalt und Leben nach dem Tod, und einen Sprung von einem Leben in ein anderes, also – wenn man es unbedingt so sehen will – Selbstmord. Darf man so ein Buch Kindern zumuten? Man darf, wie die Begeisterung der kindlichen Leser bewiesen hat. Was die entsetzten, schwer besorgten "Interpreteure" als Selbstmord sahen, verstanden nämlich die Kinder als tröstliches, rettendes Happyend.

Für Erwachsene zu schreiben, reizte Astrid Lindgren nicht. Wenig erstaunlich für eine Frau, die von sich sagte, sie schreibe ausschließlich für das Kind in ihr. An Erwachsene wandte sie sich nur, wenn sie meinte, sich in die Politik ihres Landes einmischen zu müssen. Dann tat sie es klug, ironisch und feurig. Etwa, als sie sich für die Rechte von Tieren einsetzte, oder als sie eines Jahres eine Steuervorschreibung von 102 Prozent ihres Einkommens erhielt. Auch wenn es um Atomenergie ging oder um den Krieg in Vietnam. Da hielt sie es für ihre Pflicht, Stellung zu beziehen.

Dass ihre Wortmeldungen in schwedischen Zeitungen tatsächlich positive Veränderungen bewirkten, etwa bei den Steuergesetzen und den Tierschutzgesetzen, dürfte allerdings eine sehr rare, schöne, schwedische Eigenart sein. Ein Heinrich Böll in Deutschland, zu dieser Zeit wohl ebenso moralische Instanz seines Landes, war keineswegs in der Lage, das Handeln von Politikern zu beeinflussen.

Aber die Aufregung, die ihre Parteinahme in Schweden dann jeweils verursachte, war Astrid Lindgren nicht angenehm. Noch weniger angenehm war ihr das Medieninteresse an ihrem Privatleben. Interviews konnte sie sich natürlich nicht entziehen, aber sie blockte so gut als möglich ab. Ihre Antworten wurden von Jahr zu Jahr zunehmend karger, spöttischer und gelangweilter. Sie wollte nicht erklären, was sie mit diesem oder jenem Buch "gemeint" habe und welche "Botschaften" sie den Kindern andienen wolle. Da konnte es schon passieren, dass sie einem Interviewer sagte, sie habe gar nichts gemeint. Oder ihm empfahl, das Buch, um das es ihm ging, zu lesen. Da stehe nämlich drin, was sie gemeint habe.

Und schon gar nicht war sie bereit, über ihr Privatleben, das keine Heile-Welt-Idylle war, Auskunft zu geben. Auch Preise, Ehrungen und Orden, die sie natürlich mit schöner Regelmäßigkeit bekam, bedeuteten ihr nicht viel. Und dass sie jährlich zur beliebtesten Person in Schweden ernannt wurde und schließlich zur "Schwedin des Jahrhunderts", war ihr eher peinlich.

Astrid Lindgren letztes Buch war Ronja Räuberstochter. Hernach wollte sie kein Buch mehr schreiben. Zu ihrer Freundin Margareta sagte sie einmal: "Ich habe diese Astrid Lindgren so satt!" Und das war garantiert nicht kokett, sondern ernst gemeint.

Dem Interesse der Medien, den Ehrungen, Auszeichnungen und Preisen entging die Frau, die weder berühmt noch beliebt sein wollte, natürlich trotzdem nicht. Sie nahm sie geduldig hin. Aber der sarkastischen Bemerkungen dazu konnte sie sich doch nicht enthalten. Als sie ein Interviewer fragte, ob ihr Preise noch etwas bedeuten, erklärte sie ihm mit ernster Miene, dass die großen, schweren Preise für sie wichtig seien, denn mit denen könne sie die Fenster offen halten, wenn es sehr windig sei. Und 1994 in ihren Dankesworten zum Alternativen Nobelpreis merkte siemit an, dass dieser Preis an eine Frau gehe, die halb blind, halb taub und total verrückt sei. Halb blind und halb taub war sie zu dieser Zeit leider wirklich, total verrückt hingegen keineswegs. Nur oft sehr traurig und sehr verzagt. Traurig über all das Elend auf unserer Welt und verzagt, weil sie sich dagegen völlig hilflos fühlte.

Von der "privaten" Astrid Lindgren mag ich nicht erzählen. Sie hat das nicht gewollt und daran halte ich mich. Wer unbedingt über Astrids gar nicht einfaches Leben und das schwer zu Ertragende darin Bescheid wissen will, soll seine Neugier anderswo stillen. Es sind reichlich Gedenkartikel erschienen, die "einfühlsam" berichten, was sie nie öffentlich machen wollte und was mit ihren Büchern nichts zu tun hat, denn ihr Wissen um das, was Kinder lesen wollen und wie sie es lesen wollen, bezog sie aus der Erinnerung an ihre eigene Kindheit. Margareta Strömstedt schreibt in ihrer Lindgren-Biografie sehr richtig: "Eigentlich müsste Astrid Lindgrens Lebensbeschreibung dort aufhören, wo ihre Kindheit endet." (Eine weise Erkenntnis, an die sie sich allerdings selbst nicht ganz gehalten hat).

"Die Fluten meiner Tränen"

Wann ich Astrid Lindgren kennenlernte, weiß ich nicht mehr genau. Es muss ungefähr fünfunddreißig Jahre her sein. Ich hatte zwei oder drei Bücher geschrieben, sie war bereits die bekannteste, beliebteste Kinderbuchautorin der Welt. Grund genug für mich, vor Respekt zu erstarren. Aber Astrid war so "normal", dass sich die Respektstarre im Nu verflüchtigte. Wie sie es fertigbrachte, weiß ich nicht, aber sie konnte einem blitzschnell das Gefühl vermitteln, dass sie einen mag und dass man ihr wichtig ist. "Warmherzig" ist zwar ein ziemlich antiquiertes Wort, aber ich finde kein besseres für Astrids Umgang mit Menschen.

Wir trafen uns dann alle zwei, drei Jahre einmal, bei Veranstaltungen, in unserem gemeinsamen Verlag, wenn ich in Stockholm war, oder sie in Wien. Über Kinderbücher redeten wir da allerdings nie, höchstens über den Jammer mit den dicken Kuverts, in denen dreißig Schülerbriefe und ein Lehrerbrief stecken und das Ansinnen, so hurtig wie möglich neunundneunzig Kinderfragen zu beantworten. Ja, und einmal rief sie mich an, um zu fragen, was eine "Prinz-Eisenherz-Bluse" sei. Weil ihre Tochter Karin gerade ein Kinderbuch von mir übersetzte und sich über diese Wortschöpfung den Kopf zerbrach. Aber ansonsten hielten wir es weder für nötig noch für nützlich, über unsere Arbeit zu reden.

Astrid litt, je älter sie wurde, umso stärker am grausigen Zustand unserer Welt. Wie sehr sie litt, zeigt eines ihrer wenigen Gedichte. Astrid, die wahrlich nicht an Gott glaubte, lässt es enden: "Ja, wäre ich Gott, gewiss würde ich viel über die Kinder weinen, denn nie habe ich mir gedacht, dass sie es so wie jetzt haben sollten. Ströme, Ströme würde ich weinen, damit sie ertrinken könnten in den gewaltigen Fluten meiner Tränen, alle meine armen Menschen, und endlich Ruhe wäre."

Die beste Trösterin der Welt hatte sich jahrzehntelang mit dem Schreiben von Kinderbüchern getröstet, jetzt konnte sie sich selber nicht mehr trösten.

Zeit zu gehen

Zum letzten Mal traf ich Astrid bei einer Feier unseres gemeinsamen Verlags in Hamburg: Obwohl Astrid nun fast blind und taub war, kam sie aus Freundschaft zu den Verlegern angeflogen. Das Fest war sehr laut und lustig und turbulent, wie es eben so zugeht, wenn mehr als hundert muntere Leutchen jubilieren. Und in all dem fröhlichen Getümmel saßen Astrid und ich nebeneinander an einem der Tische, und Astrid hielt meine Hand. Mehr war ihr nicht mehr möglich. So saßen wir, bis Astrids Betreuerin meinte, dass es für Astrid nun Zeit zu gehen sei.

Es gibt nicht viele Stunden in meinem Leben, die ich so wenig missen möchte wie diese. (Christine Nöstlinger, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 10./11.11.2007)