Die 4500-Seelen-Ortschaft Ilulissat wird im Volksmund bereits "Boomstadt des Global Warming" genannt.

Ansichtssache
Buckelwal im Kühlregal

Foto: Christian Fischer
Die schmelzenden Eismassen machen Platz für ganzjährige Fischerei, Tourismus und Bodenschätze.

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Das Meer schimmert schwarz zwischen blau-weiß glitzernden Eisbergen. Im Hintergrund die Ortschaft, die nach diesen Kathedralen der Arktis benannt wurde: Ilulissat, die Stadt der Eisberge, an der Ostküste Grönlands gelegen, 300 km nördlich des Polarkreises. Am Steuer schiebt Thorvald Jensen den Schubhebel vor. Dem Fischer mit der roten Wollmütze ist jetzt jedes Mal mulmig zumute, wenn er mit seinem Kutter ausfährt. "Früher waren die Eisberge oft 90 Meter hoch, jetzt sind nur noch halb so groß", meint er.

Auch Susanne Haritso sorgt sich, während sie mit Touristen zum nahegelegenen Sermeq-Kujalleq-Gletscher wandert, seit 2004 Weltnaturerbe der Unesco. Aus der Ferne sind Bauarbeiter zu hören, die das reparieren, was der viel zu warme Sommer an den bunten Holzhäusern von Ilulissat kaputtgemacht hat. "Vieles hier ist auf Permafrost gebaut", sagt sie, "meine Treppe steht ganz schief, weil sie immer weiter in den Boden sackt."

Selbst die 6000 Schlittenhunde von Ilulissat leiden unter dem Klimawandel. Angekettet liegen sie nun da am Stadtrand. Sie kommen kaum noch zum Einsatz, weil das Eis zu dünn geworden ist. Der Jäger Willy fährt jetzt mit dem Boot aus und kommt oft mit leeren Händen zurück: "Wegen der steigenden Temperaturen schwimmen hier jetzt viele Killerwale vorbei, die die Robben vertreiben", seufzt er.

Freiluftlabor

Grönland gilt als das globale Freiluftlabor des Treibhauseffektes. Seit Ende der 80er-Jahre hat sich die Luft um drei Grad Celsius erwärmt – doppelt so stark wie in anderen Teilen der Welt. Der bis drei Kilometer dicke Eispanzer, der 85 Prozent des Eilands bedeckt, schmilzt so schnell, dass nun jedes Jahr eine zusätzliche Fläche so groß wie Schweden freigelegt wird.

Dennoch plagen die 56.000 Grönländer nicht nur Zukunftsängste. Sie erleben zugleich auch einen ungeahnten Aufschwung. Zwar stellen die 400 Millionen Euro, die die ehemalige Kolonialmacht Dänemark jedes Jahr an Subventionen zuschießt, immer noch die Hälfte des Bruttoinlandsproduktes von Grönland. Doch es herrscht Aufbruchsstimmung auf der arktischen Rieseninsel, die 25-mal so groß wie Österreich ist. Denn mit dem meteorologischen Klima ändert sich auch das wirtschaftliche Klima.

Kreuzfahrten

Nirgends vollzieht sich der Wandel so sehr wie in Ilulissat. Im Volksmund wird die 4500-Seelen-Ortschaft bereits "Boomstadt des Global Warming" genannt. Die Arbeitslosigkeit ist gegen null gesunken, auch weil der Hafen nicht mehr zufriert: Es legen jetzt auch im Winter Kreuzfahrtschiffe an. Die Zahl der Übernachtungsgäste hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt.

Susanne Møller betreibt den "Glacier Shop" – einen Souvenirladen, so edel, dass er fast ein bisschen fehl am Platz ist in der Arktis. Robbenfelle bürsten? Rentierknochen schnitzen? Nicht für mich, wehrt die hübsche Inuit ab. Sie lebt nicht mehr nach, sondern nur noch von den Traditionen ihrer Landsleute.

"Die Touristen lieben es, hier zu shoppen", sagt sie, "wir haben sogar unsere eigene Modelinie, Isaacsen Design, die sich demnächst in New York verkauft." Auch die Fischer freuen sich über ihren neuen Platz an der Sonne. "Wir können jetzt das ganze Jahr hindurch unsere Netze auswerfen", schwärmt Johnny Ottoson, der für den auf Garnelenfang spezialisierten Konzern Royal Greenland arbeitet. Noch andere träumen von Ackerbau und Viehzucht. Grönland könnte schon bald von teuer eingeführten Landwirtschaftsprodukten unabhängig werden. Im Süden der Insel ist die Wachstumsperiode mittlerweile so lang wie in den Alpen auf 1500 Metern. "Wir bauen jetzt Kartoffeln an, und es gibt sogar schon Farmer, die Schafe haben", freut sich Arna Langa, der an der Kassa des Ilulissat Supermarktes vier Euro für einen Liter Frischmilch zahlt.

Gold und Diamanten

Die wirtschaftlichen Ambitionen der Grönländer gehen weit über Fischerei, Tourismus und Agrikultur hinaus. Viele spekulieren, dass die Eisschmelze ungeahnte Bodenschätze freilegen könnte. Im Süden wurden bereits Gold und Diamanten gefunden, im Norden Blei und Zink. Noch ist die Insel allerdings nicht zugänglich genug für großangelegte Minenprojekte. Bislang ergrünen maximal 150 Kilometer breite Küstenstreifen. Außerdem gibt es bis heute keine Straßen zwischen den verschiedenen Ortschaften. Und: nur zwei Flughäfen mit für größere Transportmaschinen geeigneten Landepisten. (Beatrice Uerlings aus Ilulissat, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11.11.2007)