Die Himmelstraße führt von Grinzing den Berg sanft den Berg hinauf in die Nähe vom Cobenzl, dorthin also, wo der Wiener fast im Himmel ist. Beiläufig erwähnt Erica Fischer, dass sie dort mit ihrer Familie spazieren gegangen ist.

Himmelstraße, schreibt Fischer, nannten die SS-Wachen die Schleuse, die in Treblinka geradewegs in die Gaskammern führte.

Das ist ein zynischer Zufall, doch er passt messerscharf. Denn die Autorin verknüpft die beiden Orte, sie spinnt die Fäden der Geschichte meiner Familie weiter, nach Warschau, wo ihre Mutter herkommt und ihre Fahrt nach Treblinka beginnt; nach London, wo sie in der Emigration der Eltern geboren wurde; nach Berlin, wo sie ein Zuhause weit weg von der Vertrautheit Wiener Kaffeehäuser gesucht hat; kurz auch nach Los Angeles, wo sich ebenfalls ein Gefühl von Heimat, von Liebe einstellt.

Lieben aber habe sie nicht gelernt, stellt sie einmal fest und resümiert: "Es ist, als hätte es mich nie gegeben."

Mit Himmelstraße ist Erica Fischer eine so beeindruckende wie erschütternde Familiengeschichte gelungen. Sie beginnt mit der Nachricht, dass ihr Bruder verschwunden ist, und endet mit der Gewissheit seines Todes. Dazwischen liegt ein sich verdichtender, leidenschaftlicher, Leiden schaffender Rückblick auf ihren emotionalen Werdegang, auf die Gründe dafür, warum ihr Leben so und nicht anders verlaufen ist.

Die Verfasserin präziser und kluger Lebensläufe anderer - am bekanntesten unter ihnen Aimée & Jaguar - richtet ihren genauen Blick nun auf sich selbst. Dem Ergebnis kann und will man sich nicht entziehen, man wird hineingezogen in eine schonungslose Selbst(psycho)analyse, die keinen Hinweis auf theoretische Überväter braucht, vielmehr aus der eigenen gedanklichen, schriftstellerischen Kraft lebt.

Weichenstellung des Schicksals

Der Rückblick auf Eltern, Bruder, Großeltern ist ein Ringen um Nähe und Distanz, mit Bildern von äußerster Konzentration und gelegentlich schwarzem Humor. Die Urne im Wohnzimmer? "Meine Cousine hatte sich einen Großvater immer anders vorgestellt." Doch das sind Ausnahmen, oder sie enden fatal wie der Tagtraum, dass sie - bei etwas anderer Weichenstellung des Schicksals - Teil einer glücklichen Familie in Australien hätte werden können, "und vielleicht wäre mein sonnenhungriger Bruder inzwischen an Hautkrebs gestorben."

Große, gewichtige Teile des Buches ringen mit der Frage, was freiwilliger Tod, was Tod überhaupt und was trotziges Weiterleben bedeuten. Einen bitteren Sieg bestenfalls, kommt sie zum Schluss. Während sie Bücher ihres Bruders verpackt und aussortiert und sich als Überlebende sieht, fällt ihr ein Vokabel voll schrecklich assoziativer Kraft ein: "Es hat mich nicht nach dieser Selektion gedrängt", sie sei dazu gezwungen worden - ein Echo auf die Rekonstruktion, wie die letzten Tage ihrer Großeltern gewesen sein könnten.

Was bleibt, ist ein großes Leseerlebnis und die Hoffnung, dass Literatur doch eine kathartische Wirkung haben könnte. (Michael Freund, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 10./11.11.2007)