Dadurch kommt die antike Sicht der Erde ins Lot - und das sagenhafte Thule wird enttarnt.

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Berlin - So wie die Weltkarten von Kolumbus mit ihren zu kurzen Meeresentfernungen waren sämtliche Atlanten des Mittelalters mehr oder weniger fehlerhaft. Sie gründeten auf Daten aus der Antike, die der Gelehrte Claudius Ptolemäus im zweiten Jahrhundert zusammengetragen hatte: Sie enthielten das seinerzeit bekannte geografische Wissen über die Lage von knapp 7000 Orten in Europa, Afrika und Asien. Das daraus resultierende Kartenmaterial war bis ins Spätmittelalter die Grundlage aller Atlanten.

Sie zeigen eine Vielzahl von Orten, deren heutige Lage unbekannt ist. Waren einige der mittelalterlichen Zentren womöglich Vorläufer heutiger Städte? Und welche Verkehrswege bestanden damals? Verstünde man die Karten zu deuten, könnten sie die Welt des Altertums offenbaren. Erst jetzt, fast 2000 Jahre nach ihrem Entstehen, entschlüsselten Wissenschafter der Technischen Universität Berlin die Weltbeschreibung des Ptolemäus und konnten jeder Ortschaft ihre korrekte Lage zuordnen.

Claudius Ptolemäus war einer der renommiertesten Gelehrten des Römischen Reiches. Er war griechischen Ursprungs und lebte in Alexandria an der ägyptischen Mittelmeerküste. Seine astronomischen und mathematischen Theorien hatten bis zum Ende des Mittelalters Bestand. Ptolemäus erkannte, dass die Erde eine Kugel war. Er teilte den Planeten in Breiten- und Längenkreise ein; seine Definitionen gelten zum Teil noch heute.

Im zweiten Jahrhundert, als das Römische Reich seine größte Ausdehnung erreichte, beschloss Ptolemäus, von sämtlichen Siedlungen der bekannten Welt die geografischen Koordinaten zu recherchieren. Er griff dabei auf Daten griechischer Gelehrter zurück, die Jahrhunderte zuvor gelebt hatten. Messtrupps unter Alexander dem Großen beispielsweise hatten die Lage hunderter Siedlungen in Asien vermessen.

Ptolemäus' Tabelle, die sogenannte "Geographike Hyphegesis", listete knapp 7000 Stätten mit ihren geografischen Koordinaten. Angesichts der vielen Daten erschien es rätselhaft, warum Ptolemäus' Beschreibungen oft falsch waren.

Italien als Puzzle

Die Forscher kamen dem Rätsel auf die Spur, indem sie die Entfernungen bekannter Siedlungen wie Lissabon und Istanbul auf der Liste von Ptolemäus mit den tatsächlichen Distanzen verglichen. Die geografischen Angaben auf der Liste von Ptolemäus seien systematisch falsch, berichtet Dieter Lelgemann von der TU Berlin: Im Vergleich zu ihren tatsächlichen Standorten liegen die Orte in Europa im Verhältnis 7 zu 5 zu weit auseinander, erklärt Lelgemann. Westlich von Europa seien die Entfernungen im umgekehrten Verhältnis gestaucht.

Dieser Irrtum fand Eingang in die mittelalterlichen Landkarten, was auch Kolumbus zum Verhängnis geworden wäre, hätte er nicht zufällig Amerika entdeckt.

Die Fehler sind Ptolemäus vermutlich unterlaufen, weil er Maßeinheiten verwechselte, erklärt Lelgemann: Zur Zeit des Römischen Reiches gab es zehn unterschiedliche Definitionen der Entfernungseinheit "Stadion". Ptolemäus habe offenbar die falsche Einheit verwendet, berichten Lelgemann und die Wissenschaftshistoriker Andreas Kleineberg und Eberhard Knobloch.

Neben dem simplen Maßstabsfehler entdeckte Lelgemann noch ein weitaus gravierenderes Problem in Ptolemäus' Beschreibungen: Ganze Regionen waren um unterschiedliche Distanzen gegeneinander verschoben.

"Ptolemäus hat offenbar ein Puzzle von Regionalkarten zusammengefügt", meint Lelgemann. Allein Italien beste- he aus 40 Kartenteilen. Ptolemäus habe die Abschnitte falsch zusammengesetzt, sodass meist große Lücken klafften. Die Abstände zwischen den Karten zu identifizieren hat die Berliner Forscher Jahre gekostet.

Die korrigierte Weltkarte des Altertums soll nun Historikern zur Verfügung gestellt werden und dürfte noch für manche Überraschung sorgen. Einige Erkenntnisse ergeben sich unmittelbar: Beispielsweise war bislang unklar, auf welchen Seeweg die Römer auswichen, nachdem die Parther im zweiten Jahrhundert vor Christus die sogenannte Seidenstraße gesperrt hatten. Der Handelsweg zwischen Europa und China hatte für das Römische Reich große wirtschaftliche Bedeutung.

Die Häfen, die die römischen Schiffe auf ihrer Ausweichroute übers Meer anliefen, konnten Lelgemann und seine Kollegen bereits ermitteln: Die Flotte landete beispielsweise in der chinesischen Hafenstadt Kattigara - auf der Insel Karimata, westlich von Borneo. Zielhafen war häufig die chinesische Hafenstadt Haiphong, ein bedeutender Handelsplatz des chinesischen Kaiserreiches.

Auch den seit Jahrzehnten tobenden Streit um die Insel Thule konnten die deutschen Forscher entscheiden. Die Mytheninsel wurde im vierten Jahrhundert vor Christus von dem griechischen Seefahrer Pytheas auf einer Reise nördlich von England gesichtet.

Doch kurz darauf ging das Wissen verloren, um welche Insel es sich handelte. Island, die Färöer- oder die Shetlandinseln kamen in Frage. Aufgrund der Verwirrungen fand Thule Eingang in zahlreiche mittelalterliche Mythen. Doch nun ist das Geheimnis gelüftet, berichtet Lelgemann: "Thule ist Smøla, eine Insel vor Trondheim in Norwegen." (Axel Bojanowski/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 11. 2007)