"Glücklicherweise lässt sich die Geschichte nicht auf Dauer verfälschen", glaubt Esteban Volkov, dem es ein Anliegen ist, das Bild seines Großvaters in Ehren zu halten.

Foto: Christian Fischer
Seine gesamte Familie wurde von Stalins Männern getötet, Esteban Volkov selbst wurde durch ganz Europa gejagt. Heute will Trotzkis Enkel gegen "Geschichtslügen" kämpfen - dieses Wochenende in Wien.

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Wien - "Redet nicht mit Sieva über Politik", pflegte der Großvater seinen Sekretären, Freunden oder Genossen zu sagen, wenn jemand mit dem jungen Esteban, den er Sieva nannte - eine Koseform seines ursprünglichen Namens Vsievolod -, ins Gespräch kam. Der heute 80-jährige Esteban Volkov schmunzelt vorsichtig, während er das erzählt, denn immerhin war sein Großvater Leo Trotzki, eine der wichtigsten Figuren der Russischen Revolution vor genau 90 Jahren und größter Widersacher des Diktators Stalin.

Wollte er kurz vor seinem Tod, als ihn 1940 ein von Stalin geschickter Agent im mexikanischen Exil mit einem Eispickel erschlug, dass ausgerechnet sein Enkelsohn ein unpolitischer Mensch werden solle? "Nein", sagt Volkov und macht ein nachdenkliches Gesicht, "aber er dachte, dass er und seine Familie der Politik genug Tribut gezollt hatten".

Jagd durch Europa

Tatsächlich hatten sämtliche Verwandte und viele Freunde Volkovs ihr Leben verloren, weil Stalin sie ermorden ließ. Sein Vater wurde erschossen, seine Mutter verließ mit Esteban 1931 - zwei Jahre nachdem Trotzki ins Exil geschickt worden war - die Sowjetunion. Sie durfte nur eines ihrer Kinder mitnehmen und nahm sich 1933 das Leben. "Sieva" lebte eine Zeitlang beim Großvater auf der türkischen Insel Prinkipo im Marmara-Meer, später wurde er nach Berlin gebracht und auch nach Wien. Als er sich am Freitag zum Interview im Café Central einfindet, ist der heute in Mexiko-City lebende Volkov, genau zum dritten Mal in Wien.

Die zwei Jahre, die er hier lebte, hinterließen ein paar Brocken Deutsch und lebhafte Erinnerungen an Dollfuß, Arbeiteraufstände und die Montessori-Schule, die er besuchte: "Das war eine sehr warme, freundliche Atmosphäre. Viel später besuchte ich Wien einmal mit meinem guten Freund Adolf Kozlik (ein österreichischer, sozialdemokratischer Ökonom, Anm.), der leider schon verstorben ist".

Café Central

Café Central: "In diesem Café soll also mein Großvater verkehrt haben?", fragt Volkov und sieht sich staunend um, "man erzählt ja so viel über ihn, aber es stimmt, dass er gerne Schach gespielt hat - auch mit mir". Trotzki war vor genau hundert Jahren auf der Flucht vor dem Zaren nach Wien gekommen und sieben Jahre als freischaffender Journalist geblieben. Im Café Central traf sich Lew Bronstein, wie der Sohn eines jüdischen Gutsbesitzers aus der heutigen Ukraine bürgerlich hieß, zum Schachspiel. Aber das war, lange bevor Esteban Volkov in dieser Stadt in den Genuss der Montessori-Pädagogik kam.

Die Odyssee Estebans, der langsam zum Teenager reifte, ging weiter nach Paris zu einem Onkel, der aber - ebenfalls von Handlangern Stalins - vergiftet wurde. 1939 reiste der verwaiste 13-Jährige dann zum Großvater und dessen zweiter Frau nach Mexiko. "Natalia war nicht meine biologische, aber meine politische Großmutter und sehr liebevoll. Sie hat mit mir lesen und schreiben geübt. Russisch hab ich bis heute völlig vergessen und Spanisch, das ich erst damals lernte ist heute meine erste Sprache." Doch die familiäre Atmosphäre im großväterlichen Haus währte nur ein Jahr. Im Mai überfielen zwanzig Männer vor Tagesanbruch das Haus Trotzkis mit Maschinengewehren. "Sie verwendeten Thompson Maschinenpistolen wie in einem Al Capone Film". Doch keine der abgegebenen 200 Kugeln traf Trotzki, den Stalin nicht nur in seiner Rolle in der Geschichte der Revolution und auf Fotos neben Lenin, sondern als Mensch ausradieren wollte.

Nur Esteban wurde von einer Kugel am Fuß getroffen. Doch Angst habe er auch in den kommenden drei Monaten nicht gehabt. "Ich realisierte nicht, wie gefährlich mein Leben war". Das Haus, das heute unter Volkovs Leitung als Trotzki-Museum erhalten ist, wurde mit Metalltüren ausgestattet. "Aber mein Großvater wusste, dass der nächste Anschlag nicht fehlschlagen würde". Am 20. August 1940 wurde diese Ahnung Wirklichkeit.

Kein Parteigänger

Ein bisschen hat die Warnung des Großvaters, sich von der Politk fern zu halten, vielleicht gefruchtet: Esteban Volkov war nie Mitglied irgendeiner Partei. "Ich habe freundschaftliche Verbindungen zu einigen Parteien, aber ich war nicht so interessiert. Mein Beruf ist Chemiker". Trotzdem sieht er es vor allem seit seiner Pensionierung als seine "Mission, als "letzter Zeuge" zu erzählen, was er für die Wahrheit hält. Trotzki sei ja kein Einzelfall gewesen: "Stalin ließ Lügen über seine Gegner verbreiten, bevor er sie inhaftieren und töten ließ. Hätte Lenin länger gelebt, wäre es ihm gleich ergangen".

Trotzki, der an die Notwendigkeit einer "permanenten Revolution" glaubte, habe das Ende der Sowjetunion sehr hellsichtig vorausgesehen, erzählt der Enkel. Die "wahren Revolutionen der Arbeiter wie in Ungarn und der Tschechoslowakei ließ man niederschlagen". Doch der Großvater soll - etwa beider Niederschlagung des Kronstädter Matrosen-Aufstandes 1921 samt Massenerschießungen auch nicht zimperlich gewesen sein. Wie sieht das der Enkel? "Mein Großvater hat für diese Maßnahmen votiert, für den Fall, dass es zu keiner Einigung kommen würde, was er nicht erwartete. Aber es ist falsch, dass er bei den Erschießungen vor Ort gewesen ist". (Colette M. Schmidt/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 10./11. 11. 2007)