Nehmen wir einmal an, die österreichische Metaller-Gewerkschaft und die Arbeitgeber hätten sich im vergangenen Monat nicht auf einen Lohnabschluss geeinigt. Hätten die Gewerkschaften dann einen bundesweiten Streik ausrufen können? In der heutigen globalisierten Wirtschaft ist das fast unvorstellbar. Die bestreikten Betriebe hätten sofort ihre Aufträge an Konkurrenten im Ausland verloren. Am Ende hätten solche Kampfmaßnahmen nicht nur das Unternehmen Gewinne gekostet, sondern auch die Arbeitnehmer ihre Jobs.

Das einst so hart erkämpfte Streikrecht besteht in der Privatwirtschaft nur noch auf dem Papier. Selbst in streikfreudigen Ländern wie Italien und Frankreich wird deshalb vor allem im gut geschützten öffentlichen Sektor gestreikt. Die Müllabfuhr kann nicht nach Indien ausgelagert werden, ebenso wenig die öffentliche Verwaltung. Nur hier haben Gewerkschaften noch echte Macht - und können dementsprechend auch ihren Mitgliederstand verteidigen.

Am besten sind jene Berufsgruppen positioniert, die mit einer Arbeitsniederlegung ganze Systeme lahmlegen können - etwa Piloten, Fluglotsen oder Lokführer. Sie haben das höchste Erpressungspotenzial und nützen dieses auch zunehmend aus. Vor allem in Deutschland dienen Streiks immer öfter dazu, solchen strategisch gut positionierten Gruppen Partikularvorteile zu verschaffen - eigene Tarifverträge mit höheren Löhnen und besseren Bedingungen.

Was den Lufthansa-Piloten im Jahr 2001 gelang, versuchen nun die Lokführer und nehmen dafür das gesamte Land in Geiselhaft. Aus Sicht dieser Berufsgewerkschaften ist diese Vorgangsweise verständlich. Warum sollen sie nicht ihre Marktmacht dazu nutzen, das Einkommen ihrer Mitglieder zu maximieren? Das ist ja das Prinzip der Marktwirtschaft.

Aber jeder Erfolg, den sich solche Schlüsselkräfte mit Streiks herausschlagen, geht auf Kosten ihrer Kollegen, die weniger schwer ersetzbar sind. Und jeden Euro, den sich öffentliche Bedienstete durch Kampfmaßnahmen oder deren Androhung sichern, wird nicht reichen Unternehmen, sondern den Steuerzahlern weggenommen - jenen Bürgern, die meist weniger Privilegien genießen als die Staatsangestellten.

Der Streik, einst eine Waffe für mehr Gerechtigkeit und Ausdruck gesellschaftlicher Solidarität, verkommt zu dessen Gegenteil. Belegschaften werden auseinanderdividiert, genauso wie die Gesellschaft an sich - in einen geschützten Sektor, dessen Mitglieder ihre Macht ausspielen können, und den Rest, wo den Menschen der Wind der Globalisierung jeden Tag entgegenbläst.

Daher stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das Streikrecht immer noch gesetzlich geschützt gehört, oder ob es bestimmten Berufsgruppen nicht sogar untersagt werden müsste, zu ihrem eigenen Nutzen das Gemeinwohl aufs Spiel zu setzen. Die Entscheidung des deutschen Bundesarbeitsgerichts, den Lokführern grünes Licht für Streiks im Güter- und Fernverkehr zu geben, war aus dieser Perspektive völlig unverständlich. Das Arbeitsrecht kann nicht dazu dienen, Vorteile, die weder durch Qualifikation noch durch Leistung legitimiert werden, einzubetonieren. Genauso wenig, wie Macht im Wettbewerb missbraucht werden, darf dies in der Berufswelt geschehen.

Österreich blieb von diesen Tendenzen bisher verschont. Hier verhandelt die Beamtengewerkschaft vernünftig, statt mit Streiks zu drohen, hier ist die Belegschaft meist solidarisch in Spartengewerkschaften eingegliedert. Selbst die AUA-Piloten sind trotz sporadischer Streiks weniger militant als ihre Lufthansa-Kollegen. Und anders als Deutschland kennt Österreich kein ausdrückliches Streikrecht.

Aber auch hierzulande werden Berufsgruppen, die an kritischen Schalthebeln sitzen, der Verlockung kaum widerstehen können, ihre Macht zu eigenen Gunsten einzusetzen. Die Zeit, darüber nachzudenken, wie Politik, Gewerkschaften und Gerichte damit umgehen sollen, ist jetzt gekommen. (Eric Frey, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 12.11.2007)