Familienverhältnisse: Thomas Heise kehrt mit "Kinder. Wie die Zeit vergeht" ein weiteres Mal zu Protagonisten seiner früheren Dokumentarfilme zurück.

Foto: Duisburger Filmwoche
Duisburg – Eine paradoxe Definition: Dokumentarisch ist genau der Film, der sich um Wirklichkeit nicht zu sorgen braucht. Auf diese – stark verkürzte – Pointe lassen sich jedenfalls die Überlegungen bringen, die der Medientheoretiker Vrääth Öhner im Rahmen der diesjährigen Duisburger Filmwoche vorstellte.

Denn das Charakteristikum des ohnehin im Realen geerdeten Dokumentarfilms besteht gerade im Verzicht auf den Realitätseffekt, darauf, ständig verbissen den Wirklichkeitsgehalt des Gezeigten betonen zu müssen. Während ein Spielfilm sich genau daran mithilfe der bekannten analogen oder digitalen Illusionsstrategien abarbeiten muss. So ist der Dokumentarfilm in der Konsequenz freier, nicht gebundener, im Umgang mit fiktionalen Verfahren, was genau genommen heißt: mit Verfahren des Arrangements von vorgefundener Wirklichkeit.

Wie zum Beweis liefen im Programm des am Sonntag zu Ende gegangenen Festivals mehrere Filme, die dasselbe Sujet – Menschen auf der Verliererseite, die Wünsche und zerstörten Illusionen derjenigen, die von Anfang an keine Chance hatten – mit völlig unterschiedlichem Zugriff präsentierten. So rückten Stefan Kolbe und Chris Wright in Das Block vier Bewohner eines Mietshauses in Sachsen-Anhalt mit der radikalen Prämisse ins Bild, dass kein Establishing Shot oder Kameraschwenk von deren Perspektive ablenken dürfe.

Die Kamera präsentiert mit dermatologischem Furor lauter Gesichter in distanzloser Großaufnahme, abgetrennte Teilkörper, deren Selbstaussagen durch eine kurzatmige Montage allerdings einen Hang ins Paranoide bekommen. Ein Film nicht so sehr über Menschenschicksale, als eine Infragestellung dokumentarischer Konventionen. Thomas Heises Porträt einer ostdeutschen Kleinfamilie Kinder. Wie die Zeit vergeht hingegen setzt Landschaft immer wieder leinwandfüllend ins Bild, riesige Kerosintanks einer ehemals staatseigenen, jetzt privatisierten Ölraffinerie, Militärtransporter im unwirklichen Licht der Scheinwerfer des Leipziger Flughafens. Er habe beschlossen, den Film auf Schwarzweiß zu drehen, so Heise in der Diskussion, damit nichts im Bild von den Protagonisten ablenke: "Schwarzweiß kann nicht brüllen".

Auch Kehraus, wieder von Gerd Kroske findet seine Akteure im Osten Deutschlands, handelt vom Vergehen der Zeit, von unerfüllten Hoffnungen. Nach 1990 und 1996 filmt Kroske wieder ehemalige Straßenkehrer in Leipzig. Zwei sind mittlerweile verstorben, ihr Schicksal rekonstruiert der Film anhand von behördlichen Akten, Sozialamtsunterlagen, Obduktionsberichten: Überfülle an amtlicher Verdatung einerseits, andererseits notiert das Polizeiprotokoll, man habe bei dem in seiner Wohnung aufgefundenen Toten keinerlei persönlichen Papiere gefunden.

Die Aufforderung, sein Material zu arrangieren, vermutlich am weitesten getrieben hat schließlich Philip Scheffner: Halfmoon Files nimmt ein historisches Tondokument, eine ebenso spukhafte wie exakt benennbare Stimme aus dem Ersten Weltkrieg zum Ausgangspunkt einer verzweigten Reise durch Vergangenheit und Gegenwart, durch die labyrinthischen Zusammenhänge einer Allianz aus Militär, Wissenschaft und Propaganda. Halfmoon Files gibt dem Archiv seine Würde zurück und macht den Vorgang der Recherche selbst zum dramaturgischen Leitfaden. Wer Gespenstern hinterherjagt, wird nicht zu fassen kriegen, was er sucht, er wird auf dem Weg aber mehr finden, als er zu hoffen gewagt hat. (Dietmar Kammerer /DER STANDARD, Printausgabe, 13.11.2007)