Zur Person

Theodor Itten, geboren 1952, studierte Sozialwissenschaften und Psychologie in London und lebt als freischaffender Psychotherapeut und Psychologe in Sankt Gallen und Hamburg.

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Jähzorn hat für viele Betroffene die Gefühls-Wucht eines Vulkanausbruchs

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Jähzorn ist ein unberechenbares Gefühl, wenn er auftritt, dann heftig. Dampf ablassen ist die eine Seite, die mitunter zerstörerische Wirkung die Kehrseite. Als prominentes Beispiel für Jähzorn im Sport ist wohl Zinedine Zidane bei der Fußball-WM 2006 im Gedächtnis geblieben. Der Schweizer Psychotherapeut Theodor Itten hat dem Phänomen ein ganzes Buch gewidmet. Marietta Türk fragte bei ihm nach was Jähzorn überhaupt ist und wie man damit umgehen kann.

derStandard.at: Jähzorn ist ein gesellschaftliches Tabuthema, ist er trotzdem ein notweniges psychisches Ventil?

Itten: Für jähzornige Menschen ist das schon ein Ventil, sonst könnten sie nicht weiter funktionieren. Sie können ihren Zorn nur über den Jähzorn, also den heftig einbrechenden Zorn ausdrücken, weil sie sonst keine Form haben ihn zu äußern.

derStandard.at: Das heißt Jähzorn hat auch etwas Positives?

Itten: Ja, betroffene Menschen, die dazu befragt wurden, haben erzählt, dass es für sie eine Möglichkeit ist, sich auszudrücken, wahrgenommen zu werden. Schlussendlich können sich Menschen, die sich ganz schlecht fühlen, durch den Jähzorn noch äußern.

derStandard.at: Welche Mechanismen treten im Gehirn in Kraft, wenn jemand eine Jähzorn-Attacke hat?

Itten: Das geschieht im limbischen System im Mittelhirn, dort wo Gefühle wie Zorn verankert sind. Dort gibt es einen Zornregelkreis, der den Zorn von innen heraus auslöst. Bei Tieren ist das ein Urgefühl, weil es die letzte Möglichkeit ist, sich zu wehren und dem tödlichen Biss als Jagdopfer zu entkommen. Dieser Regelkreis wird ausgelöst, bevor überhaupt kognitive Funktionen beteiligt sind. Das ist auf den Menschen übertragbar.

derStandard.at: Ab wann ist Jähzorn krankhaft oder gefährlich, was sind seine negativen Seiten?

Itten: Erstens da, wo der Jähzorn zerstörerisch wirkt und bedrohlich wird, wenn zum Beispiel Dinge durch die Luft geschleudert werden. Es wird auch gefährlich, wenn der Jähzorn dazu gebraucht wird zu zeigen 'ich bin Gott auf Erden', wenn sich jemand als Tyrann gebärdet. Jähzorn wird dann krankhaft, wenn er das eigene Leben oder das anderer stört. Viele Kinder leiden unter dem Jähzorn der Eltern und können sich zuhause gar nicht mehr frei bewegen. 65 Prozent der Jähzornigen schreien, üben Gewalt gegen andere aus, schmeißen oder zerstören Gegenstände.

derStandard.at: Ist Jähzorn denn als psychische Störung oder Krankheit definiert?

Itten: Nein, aber es ist durchaus eine veritable Volksplage, sehr viele Menschen leiden darunter. Wir haben in der Schweiz eine Umfrage dazu gemacht, 24 Prozent der Bevölkerung sind jähzornig.

Es ist aber gut, dass Jähzorn nicht als psychische Störung definiert ist, sonst gäbe es einen Anlass für die chemische Industrie eine weitere Tablette zu produzieren. Der Zorn gehört zu uns, wichtig ist dass wir lernen ihn mehr auszudrücken und zu zeigen. Die jüngere Generation hat den Fortschritt gemacht, dass über Zorn oder andere Gefühle in der Familie mehr geredet wird und sie daher weniger jähzornig zu werden braucht als die ältere.

derStandard.at: Was ist der Unterschied zwischen Wut und Zorn?

Itten: Wut wird mehr ausgelöst in und durch zwischenmenschliche Beziehungen und ist eher ein soziales Gefühl, Zorn ist eher ein natürliches Gefühl, von innen heraus.

derStandard.at: Wie beschreiben Sie Jähzorn?

Itten: Jäh heißt ja heftig, von Null auf Hundert, Jähzorn ist also etwas, das schnell, steil passiert. Es ist ein Zorn, der als inneres heftiges Aufwallen beschrieben wird, das über jemanden hereinbricht und nicht kontrollierbar ist. Manche Menschen spüren vielleicht das Brodeln bevor der Zorn hochkommt, aber wenn er einmal ausbricht, kann man nichts mehr dagegen machen. Manche Betroffenen beschreiben ihn wie ein wildes bestialisches Tier oder wie eine Stichflamme. Zorn hat etwas damit zu tun, dass etwas auseinander gerissen wird, was nicht mehr zusammen gehalten werden kann.

derStandard.at: In welchen Situationen tritt Jähzorn meistens auf?

Itten: Wenn jemand nicht gesehen, nicht wahrgenommen, übergangen wird. Wenn man immer wieder etwas hinunterschluckt und dann irgendwann das Gefühl hat, jetzt reicht es. Es tritt mehr in der Familie auf, weil das wie ein Schattenreich der Gesellschaft ist, wo auch schwierige Gefühle gezeigt werden können. Das ist auch gut so, solange es nicht destruktiv wird.

Mit ein Grund ist, dass das Leben immer schneller wird, zum Beispiel im Straßenverkehr gibt es immer mehr Autos, immer mehr Staus. Manchen Menschen reicht es dann und sie werden jähzornig. Immer wenn eine Begrenzung da ist, die nicht überschritten werden kann, kann Jähzorn ausbrechen.

derStandard.at: Ist Jähzorn also auch ein Ausdruck von Hilflosigkeit?

Itten: Ja, als eine Art Ohnmacht. Die Ampel zeigt zum Beispiel Rot und ich kann nicht mehr fahren. Man merkt seine eigene Begrenztheit und dass man momentan gar keine andere Hilfe hat außer Gefühle zu zeigen.

derStandard.at: Sie haben Jähzorn auch als egoistische Sucht bezeichnet, warum?

Itten: Manche zelebrieren diese Situation, wollen bestimmen, wo es lang geht, möchten dass alle kuschen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Naomi Campbell. Der Tyrannen-Archetyp, der süchtig ist nach seinem Ego. Dahinter steckt aber wieder ein Minderwertigkeitskomplex.

In einer Umfrage haben 14 Prozent gesagt, dass sie nichts gegen den Jähzorn unternehmen. Sie finden es in Ordnung, dass sie ab und zu jähzornig sind. Das ist eine große Einsichtslosigkeit.

derStandard.at: Wie therapieren Sie als Psychotherapeut jene Menschen, die behandelt werden wollen?

Itten: Die Betroffenen sollten erstmal versuchen, nicht immer alles hinunterzuschlucken, sondern lernen den Ärger zu zeigen. Wenn der Jähzorn immer und immer wieder kommt und man Freunde, Arbeitsstellen, Partnerschaften verliert, spätestens dann ist es wichtig, dass man etwas unternimmt. Ich gehe immer davon aus, wie sich der Patient gerade in seinem Körper fühlt. Dann schaue ich mir an, wer in seiner Familie jähzornig war, weil es meistens über zwei, drei Generationen emotional vererbt ist. Dann schauen wir uns gemeinsam den Kontext an, wie jemand aufgewachsen ist, Kränkungen als Kind, verunsicherte Gefühle und schließlich was diese Menschen bis jetzt ausprobiert haben.

Dann wird durch das Gespräch, aber auch durch die Vertiefung der inneren Gefühle eine integrative Körperpsychotherapie gemacht, wo wir versuchen diese Aspekte von der emotionalen und körperlichen Seite aufzulösen. Ich versuche ihnen neue Möglichkeiten zu zeigen den Zorn anders auszudrücken. Denn Zorn an sich ist ja auch etwas sehr Kraftvolles.

derStandard.at: Was empfehlen Sie Betroffenen, wenn sie merken, dass sie jähzornig werden?

Itten: Zum Beispiel rausgehen aus der Situation. Bewegung ist auch sehr gut, manche machen Musik. Bewegung ist ein Ausgleich der Gefühle, stellt wieder Balance her. Zugleich ist es auch wichtig darüber zu reden.

derStandard.at: Wie soll man umgekehrt mit jähzornigen Menschen umgehen?

Itten: Jugendliche, die zu mir kommen und jähzornige Eltern haben, haben ein hohes Sensorium dafür. Wenn sie nicht weggehen können und im Raum bleiben müssen, machen sie genau das, was die jähzornige Person erwartet, sie passen sich sehr stark an. Man sollte auch vermeiden Dinge zu sagen, von denen man weiß, dass sie Jähzorn auslösen könnten. (derStandard.at, 15.November 2007)

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