Doch in den Fluren des Reichstags gab es nur ein Thema: Die „Entgleisung“ von SPD-Bundestags-Vizepräsident Wolfgang Thierse gegenüber Altkanzler Helmut Kohl (CDU). Thierse hatte in der Leipziger Volkszeitung über die Rücktrittsgründe seines Parteikollegen Franz Müntefering gesprochen und gemeint, es sei doch verständlich, dass der künftige Ex-Vizekanzler gerne seiner krebskranken Frau beistehen wolle. „Seine Frau im Dunkeln in Ludwigshafen sitzen zu lassen, wie es Helmut Kohl gemacht hat, ist kein Ideal“, meinte Thierse dann noch und schockierte damit nicht nur die Union. Denn Kohls Frau Hannelore hatte während dessen Kanzlerschaft (1982 bis 1998) an einer seltenen Lichtallergie gelitten und sich im Jahr 2001 das Leben genommen.
Die Äußerungen „grenzen an Niedertracht“ zürnte daraufhin Bundeskanzlerin Angela Merkel, und aus der Union wurden Rücktrittsforderungen laut. Auch in der SPD war man unangenehm berührt. Thierse habe „eine Grenze überschritten“, kritisierte Finanzminister und Parteivize Peer Steinbrück. Daraufhin schrieb Thierse Kohl am Freitag einen Brief, indem er „in aller Form um Entschuldigung“ bat.
Der Altkanzler, der am Freitag in Berlin den dritten Band seiner Memoiren präsentierte (Erinnerungen 1990 bis 1994, Verlag Droemer/Knaur), nahm die Entschuldigung an und überraschte seinerseits mit einem Eingeständnis: Er habe sich bei der Einschätzung über die Vollendung der deutschen Einheit „sicher getäuscht“ – wie „übrigens alle“. Die Probleme seien größer gewesen als zunächst gedacht.