Kollektives Spinnen: Das Rad des Ixion in seiner zeitgenössischen Variante

Foto: Standard/Heribert Corn
Wenn die Tage kürzer werden und die Nebel einfallen, wenn die Straßen mit feuchtem Laub bedeckt und die Morgenstunden frostig sind, wenn die stürmischen Winde die Blätter von den Bäumen fegen und die ersten Schneeschauer den Wienerwald streifen, kurz: Wenn die schmalen Reifen unserer federleichten, schwarz schimmernden Carbon-Rennmaschine in den glitschigen Kurven den Halt verlieren und der eisige Fahrtwind die Gliedmaßen erstarren lässt und die Tränen in die Augen treibt, dann gehen wir ins Fitnessstudio.

Eine andere Welt

Mit dem Fitnessstudio betreten wir eine andere Welt. Es ist, sobald wir den Empfang verlassen, uns umgezogen und einen der Trainingsräume aufgesucht haben, vorab eine Welt der anderen Geräusche.

Das Surren der Laufbänder und Ergometer, das rhythmische Aufsetzen von Füßen, das Klappern der Gewichte, das Atmen und Stöhnen der Menschen, die halblauten Anweisungen sporadisch auftauchender Trainer ergeben ein akustisches Universum, das an leichtindustrielle Fertigungshallen erinnert und dem sich die meisten Besucher schnell wieder entziehen, indem sie sich kleine Lautsprecher in die Ohren stecken, die mit ihren iPods oder den Bildschirmen an den Fitnessgeräten verbunden sind. Die Ohren, auch die Augen sind irgendwo, der Körper aber arbeitet hier, im Raum, an den Geräten, unverdrossen.

Körper ist nicht gleich Körper

Das Fitnessstudio ist eine Welt für sich und doch ein Spiegel der Welt. An dem, was die Menschen hier tun und wie sie es tun, lassen sich ihre Motivationen, Sorgen und Nöte, ihre Sehnsüchte und Wünsche erahnen, die sie ins Fitnessstudio getrieben haben. Natürlich: Hier dreht sich alles um den Körper. Aber Körper ist nicht gleich Körper, und das, was mit dem Körper geschehen, was aus dem Körper hier werden soll, gehorcht offenbar ganz unterschiedlichen Vorstellungen und Zielen.

Die Sportlerpersönlichkeiten

Da sehen wir urbane Freizeitsportler, die sich am Laufband auf den nächsten Stadtmarathon vorbereiten, daneben die überschlanken Mädchen, die am Stepper oder Crosstrainer noch jene letzten Fettpölsterchen wegbringen wollen, die sie noch von der Magersucht trennen; da sehen wir alternde Herren, die an Ausdauergeräten ihr Herz stärken und Kalorien verbrennen wollen; da sehen wir die jungen, tätowierten Männer, die ihren Körper so lange trainieren, bis sie dem klassischen Schönheitsideal und dem Waschbrettbauch nahe gekommen sind; mitunter, aber seltener als vermutet, sehen wir auch die eigentlichen Bodybuilder, die vor und nach dem Training ihre Pillenschachtel konsultieren, die jeden Muskel ihres Körpers solange malträtieren, bis sich alles nur noch wölbt und spannt, prall bis zur tendenziellen Bewegungsunfähigkeit; wir sehen Menschen aller Altersgruppen an muskelstärkenden und fettreduzierenden Geräten, wir sehen Frauen, einzeln und in kleinen Gruppen, beim Strecken und Dehnen, bei Balanceübungen und bei konventioneller Gymnastik, bei Versuchen, den Po zu straffen und den Bauch wegzubringen, mit einem Wort: Wir sehen Körperarbeit, in wandelnder Gestalt.

Anzeichen des Verfalls

Eine dieser Gestalten ist der Intellektuelle. Lange hat er das Fitnessstudio gemieden, wie den Sport überhaupt. Rauchend, trinkend, sitzend, diskutierend hat er bislang sein Leben zugebracht, und während er sich philosophisch für einen Materialisten hielt, drückte sich in jeder seiner Gesten eine rabiate Körperverachtung aus. Der Körper – das war nichts, das man pflegen oder formen sollte, der Körper war auch nichts, dem man etwas abverlangen konnte.

Der Körper hatte beim Sex und bei der Verdauung zu funktionieren, alles andere war bürgerliche Ideologie. Nun treffen sich die einstigen Körperfeinde im Fitnessstudio. Denn der Körper hat sich gemeldet. Nicht nur beim Sex funktioniert er nicht mehr so wie gewohnt. Er hat sich verformt, und der Geist fühlt sich unwohl in diesem Körper. Also beginnt der Intellektuelle seinen Körper zu beachten, die Anzeichen des Verfalls ängstigen ihn, er beginnt mit leichtem Training, statt Barrikaden zu bauen, stemmt er Gewichte, statt im Laufschritt gegen das Unrecht dieser Welt zu demonstrieren, traktiert er das Laufband. Er überwindet sich und merkt, dass es jenseits aller Theorie etwas gibt, das er so noch nicht erfahren hat: Den Schmerz, den man auf sich nimmt, um sich danach besser zu fühlen. Keine Frage: Die Entdeckung des Fitnessstudios hat die Leidensfähigkeit der europäischen Intellektuellen entscheidend erhöht.

Die Spinning-Welt

Um diese Leidensfähigkeit auszukosten, gehen wir manchmal auch zum Spinning. In der Welt des Fitnessstudios ist dies noch einmal eine Welt für sich. Abgeschlossener Raum, dröhnende Musik mit variierenden, das Tempo vorgebenden Rhythmen, die knappen, von dramatischer Gestik begleiteten Anweisungen der Trainerin, und die spartanischen Spinning-Bikes, an denen nichts blinkt und leuchtet, an denen keine Kilometer, Watt, Kalorien oder Pulswerte abzulesen sind, und die sich immer weiter drehen, unbeirrbar, gegen immer größeren Widerstand, schweißtreibend in höchstem Maße.

Seit Peter Konwitschny in seiner fabelhaften Grazer Inszenierung von Richard Wagners Der fliegende Holländer die Gespielinnen der erlösungssüchtigen Senta aus der Spinnstube verbannte und auf Spinning-Räder setzte, ist Spinning auch für Intellektuelle eine akzeptable Form der Körperarbeit geworden. Trefflich lässt sich nun, während der Puls steigt, der Atem kurz wird und die Beine zu schmerzen beginnen, darüber räsonieren, was die inszenatorische Transformation des Spinnrades in ein Fitnessgerät eigentlich bedeuten mag.

Das Rad

Das Spinnrad war ja nicht nur ein halbmechanisches Gerät zur Produktion jener Fasern gewesen, aus denen die unterschiedlichsten Gewebe hergestellt werden konnten, sondern auch eine wirkmächtige Daseinsmetapher: Im Märchen kann man Stroh zu Gold spinnen, in Richard Wagners Götterdämmerung spinnen die Nornen die Fäden, an denen das Schicksal der Götter und Menschen hängt, und für Goethes Gretchen wird das Spinnrad zum Symbol einer aus den Fugen geratenen Welt, zum Ausdruck einer inneren Unruhe und hastenden Irritation, die den tragischen Verlauf ihres Geschicks antizipiert. Das Spinning-Bike aber, das sich, einmal in Schwung gebracht, unaufhörlich weiterbewegt, keinen Leerlauf kennt und keine Atempause gönnt, gleicht eher dem unaufhörlich sich drehenden Rad, an das die Götter Ixion, den König der Lapiter, schnallten, um ihn für seine Frevel zu bestrafen. Für Schopenhauer war dieses Feuerrad des Ixion zum Ausdruck der Ruhe- und Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz geworden, das Spinning-Rad bestätigt und ironisiert diese Deutung: eine Maschine, die sich, vollkommen selbstreferenziell, in sich dreht, tauglich einzig zur Produktion von Schweiß.

Entscheidende Begriffe

Was immer im Fitnessstudio an Schweiß auch fließen mag – alles kreist im Selbstverständnis der Betreiber und Kunden um vier Begriffe: Gesundheit, Kraft, Ausdauer, Attraktivität. Je nach Alter, Geschlecht und Charakter werden diese Ziele in unterschiedlichen Intensitäten und mit mannigfachen Mitteln verfolgt.

Verschiedene Charaktere

An den Herz-Kreislaufmaschinen arbeiten die Cholesterinbekämpfer, Fettverbrenner und Ausdauersportler, bei den diversen gymnastischen Übungen mit mehr oder minder einschlägigem esoterischem Überbau sieht man die Ganz- und Gesundheitsjüngerinnen und die Business-Women, die sich auf den globalen Wettbewerb vorbereiten, und an den Foltergeräten der Kraftkammer werden die Körper für die Aufmerksamkeitsmärkte aller Art gestählt. Natürlich: Die Körper müssen in einer leistungsorientierten Gesellschaft funktionieren, und seit "amerikanische Studien" das alte Vorurteil, dass es schöne Menschen nicht nur in erotischen Belangen, sondern auch im Beruf leichter haben, bestätigten, ist die Grenze zwischen Fitness, Wellness und Beautyness – wieder so ein falscher Anglizismus – fließend geworden.

Die Hintergrundideologie aller Fitnessstudios aber liefert der Darwinismus: Nur die Fitten werden überleben. Sie werden zumindest länger leben. Und deshalb müssen wir uns auch außerhalb des Fitnessstudios fit machen: Für die Zukunft, für PISA, für die Grenzöffnungen, für die Globalisierung. Der Ideologe der Gegenwart denkt sich Politik nach dem Modell des Fitnessstudios.

Voluptas laborandi

Allerdings: Die mitunter durchaus quälende Lust an der Betätigung und Formung der Körper hat auch sublimere Wurzeln. Was der Philosoph Günther Anders vom Sport schlechthin sagte, gilt in besonderem Maße für die Aktivitäten im Fitnessstudio: Hier holt sich der Mensch die voluptas laborandi, jene Lust an mühevoller körperlicher Arbeit zurück, die ihm in einer durch und durch technisierten Arbeitswelt verboten ist. Zumindest ihrem äußeren Erscheinungsbild nach sieht Arbeit heute überall gleich aus: es ist eine entkörperlichte Arbeit.

Egal, ob Menschen gerade Gene sequenzieren, ein Gebäude entwerfen, einen Blinddarm operieren, ein Buch schreiben, den Staat verwalten, eine neue Mode kreieren – immer sitzen sie hinter einem Bildschirm und bewegen gerade noch mit einer Hand die Computermaus. Die anthropologische Konstitution des Menschen verlangt danach, dass er seinen noch nicht vollständig technifizierten Leib zumindest hin und wieder spüren kann.

Die psychischen und physischen Defizite der automatisierten und digitalisierten Arbeit müssen kompensiert werden. Die Kernthese von Anders lautete: "Je anstrengungsloser Arbeit wird, desto mehr muss der Mensch seine absolut unverzichtbare Anstrengung und die dazu gehörige, ebenso unverzichtbare, voluptas laborandi nachholen; er muss diese also in seine Freizeit verlegen."

Schwierige Freizeit

Je leichter die Arbeit wird, desto schwerer wird es in der Freizeit. Dieses Freizeitverhalten ist in einer technisierten Gesellschaft von eben jenen Geräten dominiert, die ihrerseits die Arbeitswelt entmaterialisieren. Kein Fitnessstudio kommt ohne High-Tech-Equipment aus, Monitore und Mikroprozessoren sind überall im Einsatz, sie überwachen vom Pulsschlag über die Schweißabsonderung bis zur Trittfrequenz alle messbaren Dimensionen einer körperlichen Betätigung und spiegeln diese am Bildschirm in digitalisierter Form wider. Was Anders allerdings vergaß: Die von der körperlichen Arbeit befreite Arbeit am und mit dem Körper erlaubt es, diesen nicht nur als Mittel, sondern endlich auch als Zweck an sich in den Blick zu bekommen.

Aus der Bildungswissenschaft

Von dem Wiener Erziehungswissenschaftler Alfred Schirlbauer stammt die These, dass im Fitnessstudio die ansonsten diskreditierte Bildungsphilosophie Wilhelm von Humboldts hochwirksam ist: "Humboldt war der erste (und bislang letzte) Bildungstheoretiker, der den menschlichen Geist und seine Bildung so gedacht hatte wie ein Bodybuilder von heute seinen Körper: nämlich als Selbstzweck und dergestalt als Gegenstand permanenter Verbesserungsbemühungen."

Dass ein Körper gebildet, in Form gebracht werden kann, dass sich Muskeln straffen und Fettpolster verschwinden können, dass sich ein Lungenvolumen erhöhen und die Ausdauer steigern lässt, lässt den Körper auch als ein Objekt der Bildung jenseits aller sportlichen, sozialen oder sexuellen Zwecksetzungen erscheinen. Die pure Möglichkeit der Formung und Entfaltung des Körpers lässt es plausibel erscheinen, diese Prozesse auch um ihrer selbst willen, aus Freude an der Formbarkeit an sich, aus Lust an der Autonomie des Ästhetischen, zu initiieren.

Diese Möglichkeit steht allerdings nur mehr dem Körper offen. Der Geist, der doch einstens der Ort der Freiheit, Gestaltung und Selbstformung gewesen war, muss sich längst vollständig den Anforderungen der Ökonomie beugen. Effizienz lautet seine Vorgabe, nicht Schönheit oder Bildung.

Wir werden bewegt

Das Fitnessstudio repräsentiert im Kern also das vergesellschaftete, höchst paradoxe Körperverhältnis unserer Gesellschaft. Dies lässt sich auch an jenem Begriff demonstrieren, der einstens die Körperlichkeit des Menschen ausmachte und nun zur Leitmetapher einer entkörperlichten Arbeitswelt geworden ist: Mobilität. Der evolutionäre Vorteil des Menschen verdankt sich zweifellos auch seiner physischen Beweglichkeit: Zwei Beine, aufrechter Gang, freie Sicht, disponible Greifhände. Damit kann man gehen und laufen, steigen und klettern, heben und tragen, werfen und fangen, stoßen und stemmen.

Jahrtausendelang prägten diese Bewegungs- und Kraftformen den zivilen und militärischen Alltag der Menschen. Technischer Fortschritt unter der Perspektive der Mobilität bedeutet drastische Reduktion der Eigenbewegung der Körper bei gleichzeitiger atemberaubender Erhöhung der Geschwindigkeit, mit der diese Körper nun bewegt werden. Unsere Vehikel werden immer schneller, wir selbst allerdings erstarren dabei.

Der eigentliche Modus der Bewegtheit heute ist das Angeschnalltsein: im Auto, im Flugzeug, in einer Raumkapsel. Sogar die wenigen Handgriffe und Fußbewegungen, die einstens dem Autofahrer noch die Illusion verliehen, ein Fahrzeug zu steuern, werden durch automatische Getriebe, Tempomat und elektronische Leitsysteme auf ein Minimum reduziert. Nicht wir bewegen uns schnell, sondern wir werden schnell bewegt.

Zeit des Sitzens

Schnelligkeit und Geschwindigkeit sind zwar eine alles beherrschende Ideologie, und viele Menschen verbreiten eine dementsprechend unruhige Körpersprache, tatsächlich haben aber noch nie so viele Menschen so viel Lebenszeit im Zustand des Sitzens verbracht wie heute. Je mehr wir unser Leben tatsächlich nahezu bewegungslos sitzend in Fahrzeugkabinen und vor Bildschirmen verbringen, desto größer wird die Sehnsucht der Körper nach wirklicher Bewegung.

Zur Befriedigung dieser Sehnsucht hat man das Fitnessstudio erfunden. Es erlaubt uns, die gewohnte Umgebung – geschlossene Räume, Maschinen – nicht zu verlassen und dennoch das Gegenteil von dem zu tun, was wir sonst tun. Menschen versetzen nun ihre Körper in schweißtreibende Bewegungen, ohne allerdings von der Stelle zu kommen.

Stillstand

Nun sind die Körper und Glieder aktiv, aber die Vehikel angeschnallt und festgeschraubt. Alles bleibt an seinem Ort. Stillstand. Alle Energie, die die Körper erzeugen, alle Kraft, die sie aufwenden, verpufft. Wenn man wollte, könnte man in all den Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, die Bewegungen des Laufens, Radfahrens, Ruderns und Steigens simulieren, ohne auch nur einen Zentimeter voranzukommen, die Wahrheit der fetischisierten Mobilität unserer Gesellschaft erblicken: Alles ist ständig in Bewegung, einmal hier, dann wieder dort, immer schneller und immer woanders, aber am Ende hat sich nichts bewegt. Im Fitnessstudio wachsen immerhin die Muskeln, werden Herz und Kreislauf gestärkt, bringt sich ein Körper in Form. Ob solches auch für den rasenden Stillstand der beschleunigten Welt gilt, bleibe einmal dahingestellt.

Sehnsucht

Irgendwann wollen wir deshalb auch wieder raus! Und uns mit den Bewegungen unseres Körpers auch in der wirklichen Wirklichkeit bewegen. Noch aber sind wir im Studio. Die Luft steht, wir riechen den eigenen Schweiß und den der anderen.

Wir haben unsere Ohren nicht verstöpselt, denn es sind keine Sirenen in Sicht. Wir hören das Surren der Maschinen, das Aufstampfen der Füße. Desinteressiert blicken wir auf den Monitor vor uns, die Gedanken schweifen ab. Die Beine bewegen sich, ohne dass uns dies von der Stelle brächte, und im Kopf entstehen Sehnsuchtsbilder der besonderen Art. Wie es sein wird, wenn die Tage wieder länger werden, die Temperaturen steigen, die Straßen auftrocknen, die Obstbäume blühen und die Laubwälder sich lichtgrün färben.

Dann werden wir das schwarze, federleichte Rennrad von der Wand nehmen, den Reifendruck und den Lauf der Kette prüfen und das Weite suchen, hinaus auf die endlos scheinenden Straßen des Alpenvorlandes und hinauf, auf die sagenumwitterten Pässe der Dolomiten. Vor einem aber graut uns: Dass wir bei der ersten, kurzen Ausfahrt im neuen Jahr schon nach den wenigen Kehren zum Kleinen Semmering erschöpft an das Ende aller Tage denken müssen. Damit dies nicht geschieht, gehen wir ins Fitnessstudio. (Konrad Paul Liessmann*, DER STANDARD, Printausgabe, 17.11.2007)