Dušan Reljič ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Wissenschaft und Politik. Zu seinen aktuellen Forschungs­schwerpunkten zählt die Entwicklung auf dem Westbalkan. Angefangen hat Reljič seine Karriere im Journalismus. Ab Ende der 70er Jahre arbeitete er bei der Nachrichtenagentur Tanjug in Belgrad, später für das Nachrichtenmagazin "Vreme", das in der Miloševič-Ära als wichtigstes unabhängiges Medium Serbiens und als zuverlässige Informationsquelle galt. Außerdem ist er Mitbegründer der serbischen Presseagentur "Beta".

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Vor dem Hintergrund der Bemühungen um eine Lösung für den Status des Kosovo finden in der serbischen Provinz am Samstag Parlamentswahlen statt. Im derStandard.at-Interview erklärt Dušan Reljič von der Berliner "Stiftung Wissenschaft und Politik", warum die wirtschaftliche Lage eigentlich brennender wäre als die Unabhängigkeit, warum die kosovo-albanischen Politiker trotzdem lieber über die Unabhängigkeit reden und welche Rolle das Kosovo in den Beziehungen zwischen Russland und den USA spielt.

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derStandard.at: Am Samstag wird im Kosovo gewählt. Es heißt, dass die Wähler die wirtschaftliche Lage und die Arbeitslosigkeit als wichtigeres Thema als die Unabhängigkeit ansehen. Spiegelt sich das auch im Wahlkampf wieder?

Dušan Reljič: Sowohl als auch. Natürlich sind die Vertreter aller politischen Parteien zuerst Patrioten, sie wollen die Unabhängigkeit und versuchen auch manchmal, sich gegenseitig im Patriotismus zu überbieten.

Aber das Leben der Menschen im Kosovo ist - genauso wie in anderen Teilen Südosteuropas - schwer und wurde in den letzten paar Jahren auch nicht leichter. Das Kosovo hat ein sehr spezifisches Problem, denn es gibt wenig Arbeitsplätze, zugleich aber einen großen Bevölkerungszuwachs. Jährlich kommen zwischen 30.000 und 40.000 junge Menschen auf den Arbeitsmarkt und die Chancen, dass sie einen Job bekommen, sind nicht vorhanden.

Daher stehen elementare Fragen der Existenz für viele Menschen natürlich im Vordergrund. Aber die politische Klasse ist nicht in der Lage, darauf Antworten zu liefern. Deswegen leitet sie sehr viel von dieser Unzufriedenheit um und verspricht, dass nach der erwarteten Unabhängigkeit alles besser werden würde. Aber das wage ich zu bezweifeln.

derStandard.at: Würden diese Probleme durch die Unabhängigkeit nicht noch verschärft werden?

Reljič: Sollte Priština tatsächlich einseitig die Unabhängigkeit erklären, hätte dies eine Verschlechterung der Wirtschaftslage im Kosovo und eine Destabilisierung der Region zur Folge. Sollte es diesen Schritt gegen den Willen Belgrads machen, ist es nicht denkbar, dass es in den nächsten Jahren Anschluss an die regionalen Kooperationen findet.

Darüber hinaus muss man noch etwas bedenken: Genauso wie sich der albanisch besiedelte Teil des Kosovo von Belgrad separiert, so hat sich auch der Norden des Kosovo von Priština separiert. Das heißt, innerhalb Kosovos werden nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die politischen Probleme größer.

derStandard.at: Eigentlich ein Argument gegen die Unabhängigkeit?

Reljič: Wirtschaftliche Argumente haben im Nationalismus noch nie eine Rolle gespielt.

derStandard.at: Zur serbischen Minderheit: Glauben Sie, dass der Wahlboykott eingehalten wird?

Reljič: Ja, natürlich. Sie haben keinen Grund an den Wahlen teilzunehmen, denn dadurch würden sie eine Regierung legitimieren, die in ihren Augen nicht legitim ist, sondern versucht ihr Land zu spalten. Außerdem sind die Lebensbedingungen für Serben in den letzten Jahren absolut nicht erträglicher geworden.

derStandard.at: Inwieweit berücksichtigen die kosovo-albanischen Parteien die Lage der serbischen Minderheit?

Reljič: Das ist ihnen völlig egal. Für sie ist nur relevant, dass sie gegenüber der internationalen Gemeinschaft Kooperationsbereitschaft zeigen. Das sind politische Deklarationen, was in der täglichen Praxis tatsächlich abläuft, ist eine völlig andere Geschichte. Aber wenn Serben und Albaner im Kosovo nebeneinander leben, dann ist das schon ein Erfolg. Miteinander haben sie schon während der letzten 20 bis 30 Jahre nicht mehr gelebt.

derStandard.at: Halten Sie es für wahrscheinlich, dass sich Priština nach dem 10. Dezember für unabhängig erklärt, wenn die Troika ihren Bericht an UN-Generalsekretär Ban Ki-moon übermittelt?

Reljič: Das glaube ich nicht. Sowohl Präsident Fatmir Sejdiu als auch der wahrscheinliche Ministerpräsident Hashim Thaçi haben mehrmals erklärt, dass sie nur im Einklang mit den wichtigsten Partnern – das sind an erster Stelle die USA und dann mit großem Abstand die EU – neue Schritte setzen werden.

In diesem Sinne denke ich, dass man abwarten wird, wie der Bericht der Troika ausfällt und was in der UNO weiter passiert. Möglicherweise wird sich das Parlament neu konstituieren und dann die Regierung beauftragen, Vorbereitungen für die Erklärung der Unabhängigkeit zu treffen. Das würde heißen, dass vielleicht im Februar oder März eine neue Phase beginnen könnte.

derStandard.at: Es heißt, fast alle EU-Staaten könnten die Unabhängigkeit akzeptieren. halten sie das für wahrscheinlich?

Reljič: Nein, für Zypern zum Beispiel kommt das absolut nicht in Frage. Hypothetisch gedacht: Ein Großteil der EU-Staaten erkennt diese neue Entität an, Russland, viele Länder des ehemaligen Ostblocks und China aber nicht. Was für eine Unabhängigkeit ist das dann für Kosovo? Diese Frage wird auch von kosovo-albanischen Journalisten gestellt, nur ist sie nicht sonderlich populär.

derStandard.at: Eine zentrale Rolle wird Russland zugeschrieben, glauben Sie, dass das Kosovo für Moskau wirklich so bedeutsam ist, dass es eine Konfrontation mit den USA eingehen würde?

Reljič: Das Kosovo ist für Russland überhaupt nicht wichtig. Vielmehr ist für Moskau von Bedeutung, dass es eben nur noch eine Großmacht und keine Weltmacht mehr ist. Also sucht es nach Fragen, in denen es den Amerikanern Paroli bieten kann und in der Kosovo-Frage geht das natürlich wunderbar. Denn hier ist das Völkerrecht eindeutig, es wird von den Amerikanern ignoriert und die EU versucht es zu umschiffen. Russland kann hier also sagen, dass es das internationale Völkerrecht verteidigt.

derStandard.at: Gibt es Punkte, in denen man Russland entgegen kommen könnte, um eine Zustimmung zu erzielen?

Reljič: Keine Chance. Russland will sich auf diesem Wege in vielen andere Themen einbeziehen lassen. Wenn die Amerikaner von Russland Unterstützung im Iran verlangen, dann sagen sie: Wunderbar, wir helfen Euch bei den Sanktionen im Iran, aber nur, wenn ihr die Finger vom Kosovo lasst. (Sonja Fercher, derStandard.at, 16.11.2007)