Die finale Diziplin der Weltmeisterschaft: Blitzkurierdienst am Hornschlitten.

Foto: swiss-image.ch/Andy Mettler
Sechzig Meter hoch ist der Nikolaus, der weltgrößte angeblich, der in diesen Tagen unübersehbar über dem Schweizer Dorf Samnaun schwebt, der jedenfalls größten Skiarena der Ostalpen. Er baumelt als Wahrzeichen einer seltsamen Weltmeisterschaft über Samnaun, die hier in diesem Winter am ersten Dezember zum siebten Mal ausgetragen wird: der Weltmeisterschaft der Nikoläuse, der "Samichläuse" wie es im kehligen Idiom der Schweizer heißt. Viele sprechen nur von "Clau Wau", wenn von den Meisterschaften die Rede ist, die in jedem Jahr viele teilnehmende Beobachter in das kleine Unterengadiner Dorf lockt, das ansonsten wegen seiner zollfreien Einkaufs- und buchstäblich grenzenlosen Skimöglichkeiten bekannt ist.

Irgendwo aufgeklaubt?

Woher der nach PR-Schöpfung klingende Name kommt, weiß auch in Samnaun keiner genau zu erklären. Angeblich soll er auf eine uralte Sitte zurückgehen, die auch heute noch praktiziert wird: Danach ziehen die Kinder des Dorfes am Nikolaustag singend von Haus zu Haus, wo ihnen Süßigkeiten vor die Haustüre in den Schnee geworfen werden. Vom Aufklauben könnte der Name herrühren - jedenfalls ist er wahrscheinlich viel älter, als man vermuten würde.

Eine Weltmeisterschaft der Nikoläuse mit Wettbewerben wie Kaminklettern, störrische Esel mit Geschenksäcken bepackt durch das Dorf ziehen oder Hindernisläufen auf der Rodelbahn mag für manch einen Zeitgenossen ein alberner Klamauk sein. Fernsehteams aus ganz Europa, selbst aus den USA, Australien und Neuseeland lassen die bunten Bilder der zugegeben fröhlichen Wettbewerbe allerdings bereits als "Nachricht" über Bildschirme flimmern. Im letzten Jahr berichtete sogar die ARD am Abend in der "Tagesschau".

Rund 100 Anwärter und Anwärterinnen auf den begehrten Titel "Weltmeister der Nikoläuse" stellen sich am ersten Dezember der Jury. Natürlich werden die Bilder von den roten, weiß gesäumten Weihnachtsmannkostümen à la Coca-Cola-Werbung beherrscht. Doch es gibt auch Teilnehmercliquen, die diese Werbekostümierung ablehnen und in individuelleren Kostümen versuchen, einen fünf Meter hohen Kamin hinaufzuklettern, um den Sack mit Geschenken in Rekordzeit und pflichtbewusst abzuliefern.

Derweil versuchen andere Paketzusteller mit Päckchen beladene Esel durch das Dorf zum Ziel zu ziehen. An die himmlische Backstube, in der Großmutters Erzählungen zufolge köstliche Lebkuchen gebacken und verziert werden, erinnern die Bemühungen der Titelanwärter an langen Backstubentischen. Als neue Herausforderung im Programm gilt es, in diesem Jahr erstmalig ein ganzes Lebkuchenhaus zu bauen.

Im Licht von Scheinwerfern und Fackeln gehen die Wettbewerbe dann auf den Pisten am Rande des Skidorfes weiter. Höhepunkt dabei ist das Santa-Scooter-Rennen. Dabei wird der von einem Nikolaus besetzte Schlitten von einem anderen Kollegen möglichst schnell über die Bahn geschoben. Unerwartet in die Bahn geworfene Hindernisse erfordern blitzartiges Reagieren. Doch bis zu diesen abendlichen Wettbewerben schaffen es ohnehin nur jene 16 Teams, die eine gewisse Mindestanzahl an Punkten erreicht haben. Harte Kopf-an-Kopf-Rennen sind angesagt, aber auch Stil und Sitz der Verkleidung werden mitbewertet.

Zum Titel ohne Doping

Steht der Weltmeister fest, darf er als "Saisonier" symbolisch und weltweit über seine Berufskollegen gebieten. Wer in Samnaun an den Start geht, um diesen Titel zu erkämpfen, der ebenso heiß begehrt ist wie jeder andere Weltmeisterschaftstitel, nimmt die Veranstaltungen naturgemäß ernst. Allerdings nicht so ernst, dass bei den Wettkämpfen überall starre Gesichter und verbissene Mienen zu sehen wären. Und es handelt sich dabei um einen sportlichen Bewerb, bei dem mit Sicherheit auch kein Doping im Spiel ist.

Vor allem die aus allen Teilen der Schweiz anreisenden Bewerber werden von ihren Fanklubs begleitet, die der Veranstaltung auch über ihr Ende hinaus bis tief in die Nacht treu bleiben. Gastarbeiter, die die "Santa Cläuse" in Samnaun ja nun einmal sind, werden von ihnen und den einheimischen Samichläusen allerdings als geschätzt kompetente Kollegen des Zustellgewerbes empfangen. "Leitkultur am Lenkschlitten" ist hier also kein Thema, auch wenn der britische Guardian die WM bereits als eine echte Alternative zum "überkommerzialisierten" Headquarter der angloamerikanischen Santas in Lappland sieht. (Christoph Wendt/DER STANDARD/Printausgabe/17./18.11.2007)