Nachlese
Am Land, im Dorf, in China
Jeder siebte Mensch lebt in einem chinesischen Dorf: Aus dem Hinterland der aufsteigenden Supermacht erzählen die Dokumentarfilmerinnen Elke Groen und Ina Ivanceanu

Foto: Amour Fou
Wien - Jeder siebte Mensch auf der Welt, so heißt es zu Beginn des gleichnamigen Dokumentarfilms, lebe in einem chinesischen Dorf. Hinter dieser statistisch ermittelten Tatsache verbergen sich dann allerdings auch wieder ganz unterschiedliche Lebensrealitäten.

In drei kleinen chinesischen Ortschaften haben sich die österreichischen Filmemacherinnen Elke Groen und Ina Ivanceanu für Jeder siebte Mensch umgesehen: Der erste Schauplatz ist Beisuzha, ein "Modelldorf" südlich von Beijing. Viele Maisbauern gibt es hier, die Arbeit wird häufig von Hand (und von mehreren Generationen gemeinsam) erledigt. In Schaukästen wird öffentlich kundgemacht, welche Haushalte in insgesamt zehn Kategorien mit Sternchen ausgezeichnet wurden.

Die Vorsitzende des Frauenkomitees führt Buch über Geburten und über Sterilisationen. Mit allgegenwärtigen Wandparolen wird das dörfliche Kollektiv über die Gleichheit von Buben und Mädchen aufgeklärt, in der Montage von Gewächshäusern unterwiesen oder zur Anzeige von Stromdieben ermutigt.

Aber selbst wo kommunistische Kader noch über ein augenscheinlich straff organisiertes Gemeinwesen wachen, hält man den wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen, die die Politik begünstigt, nur mehr bedingt stand. Beim "kleinen Wohlstand" hat Turbokapitalismus noch selten Halt gemacht. Der Berufswunsch "Chef" scheint also naheliegend ("Da kann man viel Geld verdienen").

Der kleine Schulbub, der sich in diesem Sinne äußert, tut dies vor der Videokamera, die ein Nachbar führt. Neben den in gelassenem Rhythmus übermittelten Beobachtungen der Regisseurinnen und ihren Interviews mit Dorfbewohnerinnen und -bewohnern, die sich erstaunlich freimütig über ihre Lebens- und Arbeitssituation äußern, haben letztere nämlich auch eigene Kurzfilme gestaltet. Einige davon haben Eingang in Jeder siebte Mensch gefunden.

An der dritten Station, Jiangjiazhai in Zentralchina, in der "größten Experimentierzone für Landwirtschaft", beispielsweise filmt eine(r) "Familienglück". Der Titel ist ebenso blumig wie ironisch gesetzt. Man begegnet darin Großmüttern und ihren Enkeln, während die mittlere Generation ihr Auskommen als Wanderarbeiter anderswo finden muss. Einkommensunterschiede werden sichtbar. Einer zählt die vielen Beschäftigungen auf, denen er im Lauf der letzten Jahre nachgegangen ist - nicht lukrativ genug für eines der neuen Häuser, verkachelt und mit Sicherheitsfenstern.

In San Yuan am Himalaya hingegen müssen Alte wie Junge erst wieder Sprache und Schrift ihrer Vorfahren lernen: 50 Jahre lang war die Kultur der Naxi verboten, nun dürfen sie auch wieder ihre Naturgötter verehren. Ob diese allerdings gegen die aktuelle Bedrohung durch den "Teufel der Umweltverschmutzung" etwas ausrichten können, das muss sich erst noch zeigen. (Isabella Reicher / DER STANDARD, Printausgabe, 20.11.2007)