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Rumänische Kinder (hier bei einer Demonstration im April in Bukarest für besseren Zugang zur Bildung) sind zu Tausenden Leidtragende des Wunsches der Eltern, ihre wirtschaftliche Lage durch Arbeit im Ausland zu verbessern.

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"Schwester, geh weiter zur Schule. Mutti, pass auf dich auf, denn die Welt ist böse": Der Hof, in dem sich der zwölfjährige Andrei Ciurea erhängte.

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In den Westen ziehende Arbeitsmigranten lassen jährlich tausende rumänische Kinder zurück, meist in der Obhut von Großeltern oder anderen Verwandten. In vielen Dörfern leben nur noch Kinder und Alte. Eine Serie von Selbstmorden hat Öffentlichkeit und Behörden aufgerüttelt.

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Sperieteni - Um in das Dorf Sperieteni, etwa 50 km von Bukarest entfernt, zu gelangen, verlassen Sie die Hauptstraße und fahren eine halbe Stunde lang eine staubige, ungepflasterte Landstraße entlang. Trotz seiner Abgeschiedenheit hat das Dorf im Kreis Dâmbovita es zu einiger Berühmtheit gebracht. "Wenn Sie einen Ort suchen, in dem nur Kinder und Alte leben, sollten Sie nach Sperieteni gehen", sagt eine Frau in einem Dorf auf der Hauptstraße.

Tatsächlich wachsen die Kinder hier - wie in vielen anderen Ortschaften des Landes - praktisch allein auf, viele von ihnen warten darauf, dass ihre Putzfrauen-Mütter zu Weihnachten aus Italien oder Spanien anrufen, hoffen, dass sie sie vielleicht in den Sommerferien für zwei Wochen besuchen. Viele warten darauf, dass ihre Tischlerlehre oder irgendeine andere Berufsschule abgeschlossen ist, dann stoßen sie zu ihren Vätern auf den Baustellen, irgendwo in Europa.

Im Kasten erhängt

Andere landen in Pflegeheimen oder gar Waisenhäusern, obwohl sie Eltern haben. Und gelegentlich geht ein Zehnjähriger von der Schule ab, läuft von zu Hause weg oder erhängt sich im Kasten mit der Krawatte des Vaters.

Länger als ein Jahr versucht die rumänische Regierung nun schon, die in der Obhut ihrer Verwandten hinterlassenen Kinder zu zählen. Man fand 60.000 Kinder mit mindestens einem abwesenden Elternteil. Die Rumänien-Abteilung der Soros Foundation kam auf 170.000 Kinder in dieser Situation. Laut einer im Oktober 2007 veröffentlichten Studie zu den "Auswirkungen der Migration: Zu Hause gebliebene Kinder" gibt es 35.000 Kinder, deren beide Elternteile Rumänien verlassen haben und sie hier zurückließen. Diese Kinder werden mittels E-Mail, Telefon, ja sogar mittels Webcams erzogen.

Doch die finanziellen Kalkulationen der Eltern wälzen langfristige Kosten auf ihre Kinder ab: Lehrer beschreiben damit zusammenhängende Verhaltensprobleme in der Schule; noch besorgniserregender sind die Meldungen ostrumänischer Krankenhäuser über Selbstmorde und Selbstmordversuche problembelasteter Teenager, die mit ihren Gefühlen nicht mehr zurechtkommen. Obwohl die Migration Richtung Westen in den letzten 17 Jahren ein sehr verbreitetes Phänomen darstellte, behaupteten Regierungsvertreter und Aktivisten, keine Kenntnis über eine derartige Krise gehabt zu haben, bis die Medien letztes Jahr begannen, auf dieses Problem aufmerksam zu machen.

"Wir sind entrüstet, dass Zehn- bis Zwölfjährige Selbstmord begehen, weil sie nicht mit ihren Eltern telefonieren können", sagt Pierre Poupard, Vertreter des UN-Kinderhilfswerks Unicef vor Ort.

Einige Kinderrechtsaktivisten werfen den Eltern vor, sie würden die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder sowie das Stigma, die Abstempelung zum "Verrückten", die jede Form von Psychotherapie nach sich zieht, nur eingeschränkt verstehen. Und das Problem wird sich möglicherweise bald verschärfen - wenn, wie einige Beobachter voraussagen, der im Jänner dieses Jahres erfolgte EU-Beitritt Rumäniens noch viel mehr Rumänen zur Emigration ermutigt.

Das Dorf Sperieteni summt an einem frühlingshaften Samstagnachmittag. Die Straße ist voller fußballspielender Buben und seilspringender Mädchen. Alte Frauen sitzen auf Hockern vor den Toren, von Zeit zu Zeit seufzend, und passen auf ihre Enkel auf. Sie sind Fremden gegenüber nicht sehr gesprächig. Die Worte kommen ihnen schwer über die Lippen. "Na ja, die meisten jungen Leute sind weg; mehr als die Hälfte des Dorfes", flüstert eine alte Frau in ihren 70ern, einsam unter einem blühenden Kirschbaum sitzend. "Einige haben ihre Kinder mitgenommen. Aber der Rest der Kinder lebt bei den Großmüttern. Jetzt ist das Leben hier schwer. Ich bin alt, und in meinem Alter ist's nicht leicht, den Haushalt zu führen und diese Mädchen zu betreuen."

Ihre Tochter Liliana hinterließ ihr vor zwei Jahren die zwei Töchter, zwöf und neun Jahre alt. "Sie musste es tun", klagt die Frau, ihre Stimme bebt bei der Beschreibung der elterlichen Aufopferung. "Ihr Mann hat sie verlassen. Wir haben seit Jahren nichts mehr von ihm gehört. Sie hatte in diesem Dorf keine Arbeit. Sie musste Geld verdienen um diese Mädchen richtig aufzuziehen."

Wenig später kommt die alte Frau auf ihr eigenes Leid zurück. Die Mädchen "sind schwer zu erziehen", sagt sie. "Liliana schickt jeden Monat Geld, aber es ist trotzdem schwer. Ich bin krank ... Ich weiß nicht, was ich mit ihnen anfangen soll. Ich würde sie in ein Waisenhaus geben, aber dort würde man sie nicht annehmen." Eine staatliche Institution würde die Mädchen nur akzeptieren, wenn sie elternlos wären.

Mittlerweile haben sich alle Kinder des Dorfes um die alte Frau versammelt. Ihre Enkelinnen sitzen ihr zur Seite. Als die Großmutter in aller Seelenruhe zugibt, dass sie mit dem Gedanken gespielt hatte, sie wegzugeben, senken sie nur ihre Blicke.

"Ich vermisse meine Mutti", sagt Nicoleta, die ältere Schwester. "Die Mehrheit der Kinder in meiner Klasse ist allein zu Hause, 15 von 20. Ich hoffe, dass Mutti nach Hause kommt und uns mitnimmt. Ich habe sie heuer einmal gesehen, über die Webcam. Es hat nicht sehr gut funktioniert, aber wir haben einander gesehen. Ich will bei ihr wohnen. Sie hat versprochen, zu Ostern heimzukommen, weil sie es zu Weihnachten nicht geschafft hat." Sie scheint ruhig, vielleicht im Versuch, die Tränen vor Fremden zu unterdrücken. "Ich will dorthin gehen und mit Mami zusammen arbeiten. Aber ich muss warten, bis ich die Schule abgeschlossen habe."

Laut Marin Voinescu, dem Bürgermeister von Sperieteni, sind Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, in der Schule besser gekleidet und werden deswegen oft von den Klassenkameraden beneidet, was auch Anamaria Neagu, die Englischlehrerin im Dorf, bestätigt. Aber der Neid der Klassenkameraden verstärkt nur ihr Leid, sagt Neagu: "Bei den meisten Schulkindern sind beide Elternteile im Ausland. Großeltern und Tanten betreuen sie, aber dies ist für ein Kind nicht ausreichend. Die Teenager haben oft Verhaltensstörungen - sie sind gewalttätig, sie schwänzen die Schule."

Sie sprach mit einigen Eltern über die Probleme ihrer Kinder, aber die waren dafür nicht empfänglich. "Sie scheinen anzunehmen, dass die Abwesenheit der Eltern nicht der Grund für das Fehlverhalten der Kinder ist", sagt sie. "Nicht alle sind gebildete Menschen. Sie haben ihr Leben lang gearbeitet. Sie sind auch allein aufgewachsen: 'Erinnern Sie sich an die Ceausescu-Zeit, als unsere Eltern Doppelschichten in den Fabriken arbeiteten und wir draußen spielten, mit dem Schlüssel um den Hals? Wenn wir's überlebt haben, warum sollten diese Kinder dem nicht gewachsen sein?' So sprechen die Eltern."

Sperieteni und Dâmbovita sind keineswegs Einzelfälle. In anderen Teilen Rumäniens, wie zum Beispiel in der verarmten Moldau-Region, ist Italien beliebter, besonders bei Krankenschwestern und Altenpflegerinnen. Verlässliche Zahlen sind schwer zu bekommen. Laut einer Studie der Soros Foundation arbeiten über 2,5 Millionen Rumänen - einer von neun - im Ausland. Viele haben ihre Kinder mitgenommen und sind für immer dorthin gezogen. Aber die meisten bleiben nur etwa zwei Jahre und lassen ihre Kinder zurück, im Glauben, sie seien zu Hause, in der Schule, in der Obhut der Verwandten sicherer aufgehoben.

Beobachter behaupten, die Regierung sei um eine Antwort auf diese Situation verlegen. Der Leiter der nationalen Kinderschutzbehörde, Bogdan Panait, versichert, dass man das Problem zu bewältigen versucht. Im Juni 2006 erließ seine Behörde eine Anordnung an Außenstellen im ganzen Land, die alleingelassenen Kinder zu zählen und zu beobachten. Aber es gibt keine Frist.

"Außerdem hat die Regierung kürzlich einen neuen Gesetzesentwurf zur Vorbeugung von Kindervernachlässigung formuliert", sagt Panait. Demgemäß würden etwa zehn spezialisierte Büros und Informationszentren entstehen, die jene Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiten, unterstützen würden. Aber bis zur Verabschiedung des Gesetzes ist es noch ein langer Weg.

Ein Abschiedsbrief

Kinderbetreuungsexperten und Öffentlichkeit wurden Anfang 2006 auf das Problem aufmerksam, als die Medien über mehrere Selbstmordfälle berichteten. Ein zwölfjähriger Bub aus Curtea de Arges, einer Stadt im Zentrum des Landes, setzte am 1. Oktober seinem Leben ein Ende. Er hatte gerade herausgefunden, dass seine Mutter vorhatte, bald nach Italien zurückzukehren. Andrei Ciurea erhängte sich im Hof, nachdem er seiner Mutter und seinen Geschwistern einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte: "Es tut mir leid wegen des Streits. Mein Begräbnis wird euch keine Schwierigkeiten bereiten, denn ihr bekommt das Geld von dem Mann, der das Holz gekauft hat. Schwester, geh weiter zur Schule. Mutti, pass auf dich auf, denn die Welt ist böse. Kümmert euch um den Welpen." Seine Mutter Alexandrina kehrte nie nach Italien zurück. Ihre Entscheidung kam zu spät. (Ana Maria Luca, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20.11.2007)