Als vor vielen Jahren ein US-Politiker dem ägyptischen Staatschef Anwar al-Sadat bei Gesprächen in Camp David die fehlende Demokratie in seinem Land vorwarf, antwortete Sadat, der einige Zeit später ermordet wurde: „Demokratie ist nicht das Problem; Wahlen sind das Problem.“

Generationen von Bürgerrechtsaktivisten haben um freie, demokratische und geheime Wahlen in Mittel- und Osteuropa gekämpft. Was immer man von den politischen Turbulenzen in den postkommunistischen Staaten halten mag, kann niemand die Tatsache leugnen, dass bisher seit der Wende in allen ehemaligen Ostblockstaaten, in sämtlichen Nachfolgerepubliken des zerfallenen Jugoslawien, sogar in der umkämpften Kosovo-Provinz und in Albanien verschiedene Parteien und Gruppierungen um die Gunst der Wähler stritten. Auch in der ehemaligen Sowjetrepublik Ukraine und in Polen fanden trotz schwerer innenpolitischer Spannungen und gegenseitiger nachträglicher Vorwürfen kürzlich relativ unumstrittene, freie Wahlen statt.

105 Millionen Wahlberechtigte

Die große und auch weltpolitisch bedeutsame Ausnahme bleibt Putins Russland (zusammen mit dem allerdings machtpolitisch unwichtigen Weißrussland unter Lukaschenko). Am 2. Dezember sind rund 105 Mio. Staatsbürger aufgerufen, ein neues Parlament zu wählen. Das Ergebnis stand freilich bereits acht Wochen vor der Wahl fest.

Anfang Oktober hatte sich ein „dankbarer“ Wladimir Putin, nach fast acht Jahren an der Macht, am Kongress der von ihm kreierten Partei von „Einiges Russland“ bereiterklärt, die Wahlliste anzuführen. Nicht nur seine Gefolgsleute betrachteten diese Entscheidung als einen Geniestreich. Auch westliche Beobachter sehen darin eine neuerliche Bestätigung des taktischen Geschicks und der überragenden Machtposition des ehemaligen KGB-Oberstleutnants.

Entgegen weitverbreiteten Erwartungen tritt der 55-jährige Präsident im Einklang mit der Verfassung nach Ablauf seiner zweiten Amtszeit kein drittes Mal an und wird nach der Wahl die Position des Ministerpräsidenten übernehmen. Nach allen Umfragen wird die von ihm angeführte Wahlliste mindestens 60, möglicherweise bis zu 80 Prozent der Stimmen erhalten. Ob Putin dann den von ihm erfundenen Wladimir Subkow zum Präsidenten antreten lässt und ihn dann unter einem Vorwand ablöst oder dem Regierungschef größere Vollmachten zuschanzen wird, ist völlig unerheblich.

Im Gegensatz zu manchen Journalisten und Bankiers, die Putin als Garant der Stabilität (versus ein befürchtetes Chaos) ansehen, sagte selbst ein zynischer ehemaliger Breschnjew-Berater wie Georgi Arbatow: „... bei Putin sehe ich kein System. Er steht in der Früh auf und präsentiert jemanden als neuen Premierminister, von dem noch niemand etwas gehört hat. Heute kennt nur Putin seine Leute; aber das ist zu wenig, das beunruhigt.“

Der unabhängige Abgeordnete Wladimir Ryschkow sagt, es sei egal, wie Putin seinen Posten nennen wird. Er sieht Russland auf dem Weg zurück zum Einparteienstaat; es werde nur eine Pseudo-Opposition geben als Feigenblatt für den Westen. Der mutige, freilich als Kandidat bei der Präsidentenwahl chancenlose Ex- Schachweltmeister Garri Kasparow betrachtet sein Land als eine „leicht verdünnte Einparteiendiktatur“. Gestützt vor allem auf den Geheimdienst und die fast totale Kontrolle der Medien, genießt Putin eine unbegrenzte Entscheidungsfreiheit in der Personalpolitik. Ist also Russland heute stabil? Man kann die Schlussfolgerung eines klugen deutschen Beobachters nur bejahen: „Eine Stabilität, die von einem einzigen Mann abhängt, ist keine.“ (Von Paul Lendvai, DER STANDARD, Printausgabe 22.11.2007)