Zur Person:
Bernhard Perchinig ist Migrationsexperte am Institut für Stadt- und Regionalforschung der Akademie der Wissenschaften

Foto: STANDARD/ Heribert Corn
Wer in eine Zuwandererfamilie hineingeboren wird, hat schlechte Chancen auf eine gute Ausbildung. Daran ist das österreichische Schulsystem schuld, weil es viel zu früh selektiert, sagt der Migrationsexperte Bernhard Perchinig zu Martina Stemmer.

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Standard: Warum haben Kinder mit Migrationshintergrund noch immer schlechtere Bildungschancen?
Perchinig: Das hat einerseits mit dem mitgebrachten kulturellen und sozialen Kapital der Eltern zu tun, andererseits mit den Strukturen des österreichischen Schulsystems. Deutschland und die Schweiz hatten in den 70ern und 80ern eindeutig attraktivere Jobs für Gastarbeiter zu vergeben als Österreich. Besser Qualifizierte landeten daher eher in Deutschland und der Schweiz, während Österreich eine sehr starke Zuwanderung aus dem ländlichen Milieu erfahren hat. Außerdem ist das österreichische Schulsystem sehr stark gegliedert, es selektiert sehr früh. Wenn ein Kind in eine Schule nicht hineinpasst, wird es nach unten abgeschoben – bis es irgendwann in der Sonderschule landet. Weil die Einkommen von ehemaligen Gastarbeitern gering sind, entsteht außerdem ein gewisser Druck auf die Kinder, möglichst bald zum Haushaltseinkommen beizutragen.

Standard: Wie kann der Staat da gegensteuern?
Perchinig: An den Beispielen Frankreich, Belgien und den Niederlande sieht man, dass eine ganztägige Gesamtschule ausgleichend wirken kann. Außerdem brauchen wir dringend eine Vorverlegung der institutionellen Erziehung. Damit die Kinder so früh wie möglich mit der Landessprache konfrontiert werden.

Standard: Warum können in Wien geborene Zuwandererkinder bis zu ihrer Einschulung nicht Deutsch?
Perchinig: Es gibt europaweit eine Tendenz zur Heiratsmigration. Männer aus Südosteuropa holen sich ihre Ehepartnerinnen oft aus dem Herkunftsland. Es werden jetzt Familien gegründet, in denen der männliche Elternteil in Österreich sozialisiert worden ist und sich auskennt, dem weiblichen Elternteil – und der ist meist für die Erziehung der Kinder zuständig – das Land aber völlig fremd ist. Dieser Problematik muss man sich dringend annehmen.

Standard: Tun das andere europäische Städte bereits? Perchinig: In Berlin werden Mütter mit Migrationshintergrund als Multiplikatorinnen ausgebildet, die Familien in Bildungsfragen beraten. Man muss in die Communities hineinarbeiten. Das Bildungssystem ist ja als solches nicht für die Einwanderungsgesellschaft konzipiert. Es geht davon aus, dass die Schüler aus der Mittelschicht kommen und deutschsprachige Eltern haben. Die Idee der Halbtagsschule basiert ja auch darauf, dass die Frau zu Hause ist, zu Mittag kocht und den Kindern bei den Hausaufgaben hilft. Die Migration zeigt auf, wie wenig die Schulsysteme an die gesellschaftlichen veränderten Verhältnissen angepasst werden. (Martina Stemmer/DER STANDARD Printausgabe 22.11.2007)