derStandard.at/Kultur verlost zehn Exemplare von "Generation Sexkoffer" (Löcker Verlag, Wien 2007). Zuvor müssen Sie allerdings eine Gewinnfrage beantworten.
>>>Zum Gewinnspiel

Zur Person
Gerhard Stöger wurde 1974 geboren, lebt und arbeitet seit 1994 in Wien. Der Politikwissenschafter und Schallplattensammler schreibt als freier Journalist über Popmusik (vorrangig für den Falter).

Albencover: verschiedene Label

Tipp
Die Buchpräsentation von "Generation Sexkoffer" findet am
Mi., 28.11., 19:00
im phil (Gumpendorfer Str. 10-12, 1060 Wien) statt.
Martin Wassermair (Co-Herausgeber) und Robert Stachel (Mit-Autor; maschek) diskutieren mit Eva Weissenberger (Journalistin) und Mia Eidlhuber (DER STANDARD Album).

"Generation Sexkoffer", Essayband mit Beiträgen von Alf Altendorf, Marty Huber, Robert Misik, Sylvia Riedmann, Doris Rögner, Sigrid Rosenberger, Georg Spitaler, Robert Stachel, Klaus Stimeder, Gerhard Stöger, Martin Wassermair und Lukas Wieselberg.

Buchcover: Löcker Verlag
Erst wurden sie geschmäht, jetzt werden sie mit Gewalt gehyped, die Achtziger Jahre. "Dabei haben die 1980er deutlich Besseres verdient", meinen Martin Wassermair und Sigrid Rosenberger. In "Generation Sexkoffer" versammeln sie daher Blicke der zwischen 1965 und 1975 Geborenen auf "ihr" Jahrzehnt in Österreich. Dabei geht es nicht nur um popkulturelle Phänomene, sondern auch um das Ende der Kreisky-Ära, den Sozialstaat, den Umgang der Heimat mit der NS-Vergangenheit, Sexualität, Copyright und Computerspiele, sowie um Medien und Sport. Persönliche Erinnerungen an Kuriositäten und Anekdoten, die sich durchaus mit politischen Überlegungen zur ersten Hälfte der 80er Jahre, als auch zur deren zweiter Hälfte verknüpfen lassen.

Ein Essayband also mit hohem Unterhaltungswert, der aber durch Blickwinkel weit abseits von "Wickie, Slime und Paiper", Lücken in der Auseinandersetzung mit jüngster Geschichte schließen will. Der "Sexkoffer"-Titel mag in diesem Zusammenhang etwas wundern, hat aber seinen Grund: Die Herausgeber (>>>Editorial) beziehen sich auf eine Einschätzung von Klaus Nüchtern (im Forum), der bereits 1988 einen "konservativen roll-back" in Österreich diagnostizierte. Als einen Beleg für den "Siegeszug eines reaktionären und fundamentalistischen Katholizismus", fand dieser die für die Zeit symptomatischen, 1987/88 ihren Höhepunkt erreichenden, erbitterten Diskussion um den so genannten "Sexkoffer", den Unterrichtsbehelf zur Sexualerziehung.

Lesen Sie auf derStandard.at/Kultur eine ungekürzte Leseprobe des Kapitels "Morrissey muss warten": Falter-Autor Gerhard Stöger über seine (musikalische) "Menschwerdung in der Kärntner Provinz der Achtzigerjahre". (kafe)

>>>"Morrissey muss warten"

Morrissey muss warten

Wie ich die ausgestreckte Hand der Smiths einmal nicht richtig zu fassen bekam, oder: eine Menschwerdung in der Kärntner Provinz der Achtzigerjahre.

"Music makes the world go ’round
You can turn your troubles upside down
Gonna have to change your mind
Gonna leave your troubles behind"
(Madonna: "Everybody", 1982)

"Burn down the disco
Hang the blessed DJ
Because the music they constantly play
It says nothing to me about my life"
(The Smiths: "Panic", 1986)

Damals hinterm Mond

Der Name meines Kärntner Heimatdorfs könnte mit "Himmelberg" treffender nicht gewählt sein. Du sitzt da in einem Tal und siehst neben den Kühen auf der Wiese im Prinzip nur Berge und den Himmel. Bei passendem Wetter tauchen die Karawanken am Horizont auf und erinnern in ihrer schroffen Schönheit selbst beim Blick in die Ferne gleich an die Beengtheit Kärntens, die sich ja nicht nur in der Landschaft manifestiert. Himmelberg liegt keine zwanzig Kilometer vom errechneten Mittelpunkt des Bundeslandes entfernt. Nach Klagenfurt, St. Veit und Villach sind es mit dem Auto jeweils knapp dreißig Kilometer, der Ossiacher See ist der nächstbeste der großen Kärntner Badeseen, und am Weg zwischen Klagenfurt und dem Weltcup-erprobten Skiort Bad Kleinkirchheim hat man bei der Himmelberger Ortsdurchfahrt etwas mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt.

Einen Fußballplatz gibt es im Dorf und eine Kirche, eine Abordnung der Landjugend und ein Musikkapelle, einen Schießsportverein und mehrere Gasthäuser. Die Bezirkshauptstadt Feldkirchen ist rund sieben Kilometer entfernt; der gleichnamige Bezirk taucht in einschlägigen Statistiken immer wieder einmal ganz vorne auf: jener mit der höchsten Arbeitslosenrate Österreichs und jener mit dem höchsten Haider-Wähleranteil des Landes. Ich wurde im Juni 1974 in dieses Himmelberg hineingeboren und habe die ersten zwanzig Jahre meines Lebens dort verbracht – vier Jahre Volksschule in Himmelberg selbst, danach Sporthauptschule, Handelsakademie und Zivildienst in Feldkirchen. Klingt schlimm, war es aber nicht. Schließlich lehrten meine Eltern mich von Geburt an, dass die Provinz kein Ort, sondern ein Zustand sei, und dass es vor allem eine Frage des Kopfes sei, diesem Zustand zu entkommen. Mama und Papa waren so etwas wie undogmatische Hippies. Von den Beatles, den Stones, Hendrix, Dylan & Co über die Doors, Love und Phil Ochs bis zu Soft Machine, Velvet Underground und Red Krayola enthielt ihre Plattensammlung praktisch alles, was die Sixties zu den Sixties gemacht hatte.

Frei von Wertkonservatismus mochten sie aber auch später nicht aufhören, sich für aktuelle Popmusik zu interessieren. Diverse Größen des Glamrock waren in unserem Wohnzimmer ebenso zuhause wie die frühen britischen und amerikanischen Punkbands sowie die ersten New Yorker HipHop-Künstler. Für Disco und Soul hatten meine Eltern ebenfalls ein Faible, die gesammelten Kraftwerk-Platten gab es jeweils in deutscher und englischer Sprache, und Jazz mochten sie am liebsten, wenn ihm ein "Free" vorangestellt war. Während meine Volksschulfreunde sonntagmorgens Kirchenlieder zu hören bekamen, blieben wir zuhause und hörten John Coltrane, Albert Ayler oder Ornette Coleman. Gott brauchten wir keinen, als göttlich galten bei uns jene Klänge, die in den Rillen schwarzer Scheiben konserviert waren.

(We Don’t Need This) Fascist Groove Thang

Die Musikbegeisterung hatte ich also mit der sprichwörtlichen Muttermilch aufgesogen, und was ich nicht von selbst checkte, hat mir mein älterer Bruder nahe gebracht. Durch ihn wusste ich mit zehn schon, dass man Madonna auch als Punk verehren könne, dass die beste Band der Welt neben den Beatles, Velvet Underground, Kraftwerk, Joy Division und den Stooges wahlweise Sonic Youth, Flipper, Minutemen, The Fall oder Hüsker Dü heißen müsse und Anzugträgerhitparadenpop nicht gleich Anzugträgerhitparadenpop sei. Heaven 17 nämlich, so gab mein Bruder das in seinem Lieblingsmagazin "Spex" für mich noch unverständlich Geschriebene weiter, seien eine subversive Zelle, die den Sozialismus quasi durch die Hintertür in die oberflächliche Yuppiewelt hineinschummeln möchte. Den Duran Durans dieser Welt ginge es dagegen lediglich darum, Koks zu schnupfen und möglichst viele Models flachzulegen. Irgendwann hat die slowenische Band Laibach das auch von Heaven 17 praktizierte Prinzip der Subversion durch Überaffirmation auf nationalistische Symboliken angewendet, was uns gerade recht kam. Inspiriert durch Laibachs Platten zogen wir im März 1989 am Abend der Landtagswahl, die Jörg Haiders erstmals zum Kärntner Landeshauptmann machen sollte, in HJ-Outfit samt strengem Scheitel mit "Sieg Heil"-Gebrüll durch die Gasthäuser Himmelbergs. Wir freuten uns diebisch über das zustimmende Gejohle der betrunkenen Haider-Wähler, das mein Bruder mit seiner versteckten Kamera für die Nachwelt konservierte.

Das Schlüsselerlebnis meiner Kindheit verdanke ich aber nicht ihm, sondern Tante Jennifer, die im britischen Manchester lebte und dort für eine Plattenfirma arbeitete. Bei einem Besuch nahm sie mich im Sommer 1984 mit zur Signierstunde einer jungen lokalen Band, die in England bereits für Begeisterung sorgte. Tante Jenny meinte gar, sie könnten so etwas wie die Beatles der Achtzigerjahre werden. Die Band hieß The Smiths, und an diesem Julitag bekam auch ich ihr Debütalbum von allen vier Mitgliedern signiert – Tante Jenny hatte es mir aus der Arbeit mitgebracht. Ich hatte noch keinen Ton von ihnen gehört, war aber hin und weg von diesem eigenwilligen Sänger namens Steven Patrick Morrissey, der mich da kurz angelächelt hatte. Ab diesem Moment waren The Smiths die Größten für mich, und als sie sich nur wenige Jahre später wieder auflösten, gründeten mein Bruder und ich sogar eine Smiths-Tribute-Band, mit der wir ihre Songs in eigenwilligen Übersetzungen coverten: "Panik in den Straßen Kärntens, Panik in den Straßen Steiermarks. Ich frage dich und mich: Wann macht das Leben endlich mal Sinn?", hieß es da, oder: "Ich bin dein Licht, das niemals bricht, ich bin dein Licht, das niemals bricht …"

Ich und die Wirklichkeit

So oder so ähnlich hätte eine Kindheit und Jugend in den Achtzigerjahren unter völlig anderen Bedingungen als meinen wohl tatsächlich verlaufen können. Aber hätte wirklich ich dieses scheinbar so große Los gezogen, wäre vermutlich nicht der Musikschreiber und Plattensammler aus mir geworden, der ich heute bin.

Die einleitenden Ausführungen zu Himmelberg stimmen noch, der Rest ist frei erfunden. In Wirklichkeit genügte meinen Eltern die Musik, die im Regionalradio lief; der Kauf von Schallplatten bedeutet für meinen Vater in erster Linie hinausgeschmissenes Geld; ein am weitesten gereister Onkel hat es bis Salzburg geschafft und gehört dort einem Männergesangsverein an, und mein großer Bruder ist tatsächlich eine kleine Schwester, deren einziges Fantum einst dem Musicaldarsteller Uwe Kröger galt; heute fährt sie alle paar Jahre zum Robbie-Williams-Konzert.

Das Umfeld meiner Kindheit und Jugend schließlich war ziemlich genau das Gegenteil von weltoffen und fortschrittlich und somit ein Bilderbuchbeispiel dafür, was man sich unter "Kärnten" gemeinhin vorstellt. Meinen ersten Kuss bekam ich etwa von einer Schulkollegin, deren Vater viele Jahre später als jener Landesrat österreichweit bekannt werden sollte, der bei Haiders Ortstafelverrückungsfarce kräftig zupackte und dem Aussprüche der Güteklasse "Der Rechtsstaat ist das eine, das gesunde Volksempfinden das andere" folgen ließ. Für ihre Verwandtschaft kann sie natürlich nichts, für die Gegend, aus der ich komme, ist diese Episode aber bezeichnend. So gilt mein Banknachbar aus der Sporthauptschule heute als Nachwuchshoffnung der Kärntner ÖVP, und meine Schuldirektorin in der Handelsakademie wurde anno 2000 als Kurzzeitsozialministerin der ersten blau-schwarzen Koalition auffällig.

Musiknärrisch war ich – wie in meiner fiktionalen Eingangsbiografie – aber tatsächlich schon sehr zeitig. Seit ich den Begriff "Hobby" kenne, kam "Musik hören" stets an erster Stelle, und mit dem Hören alleine war es nie getan: Ich wollte alles über die Menschen hinter der Musik sowie die Geschichte einzelner Platten wissen und hatte das kleine Schallplattengeschäft in Feldkirchen bereits im Volksschulalter als Ort des großen Glücks entdeckt.

Meine ersten eigenen Tonträger waren Musikkassetten. Die eine stammte von der deutschen Songcontest-Gewinnerin Nicole, die andere war das Debüt der Gruppe Trio; bekommen hatte ich beide als Belohnung für schulische Leistungen. Durch Trio merkte ich erstmals, dass tolle Musik nicht von allen als solche verstanden werden muss beziehungsweise sogar zur Abgrenzung dienen kann. "Da Da Da" nervte speziell meinen Vater gewaltig. Von wegen: das sei ja keine Musik, sondern reine Verblödung, dummes Gestammel ohne Sinn und so weiter.

Love Me Do

Nicole hatte ich 1982 bei ihrem Songcontestsieg mit "Ein bisschen Frieden" im Fernsehen gesehen, wie ich auf Trio kam, weiß ich nicht mehr. An den Moment, als ich mein Herz endgültig an die Popmusik verloren habe, erinnere ich mich aber noch genau. Im Frühherbst 1982 hatte ich im Himmelberger Lebensmittelgeschäft eine Zeitschrift namens "Bravo" entdeckt, die am Cover mit einem Beitrag zum zwanzigjährigen Veröffentlichungs-Jubiläum des ersten Beatles-Hits "Love Me Do" lockte. Mein Vater ließ sich zum Kauf des bunten Blattes überreden, das mir eine völlig neue Welt eröffnete – und auch gleich klar machte, dass einer der vier Beatles keine zwei Jahre zuvor erschossen worden war. In "Bravo" stand alles, was ich über die Band wissen musste, und noch viel mehr als das. Abgesehen von John, Paul, George und Ringo kannte ich praktisch nichts und niemanden, fand aber alles unglaublich aufregend.

Vor allem eine gewisse Nena fiel mir auf, deren erste Single "Nur geträumt" auch in der "Bravo"-Hitparade zu finden war. Dann geschah etwas Seltsames: Eines Abends lief Ö3 und der Moderator sprach davon, dass man sich telefonisch oder brieflich Lieder wünschen könne. "Ich würde mir ‚Nur geträumt’ von Nena wünschen", sagte ich zu meinem Eltern – und unmittelbar darauf wurde die deutsche Newcomerin auch ohne mein Zutun gespielt. Von diesem Erstkontakt mit ihrer Musik an war ich Nena-Fan. "Bravo" versorgte mich allwöchentlich mit den neusten Infos über sie und ihre gleichnamige Band – und Ö3 lieferte den Soundtrack dazu.

Von meiner Großmutter bekam ich zu Weihnachten 1982 zweihundert Schilling. Sie wisse um meine Leidenschaft, meinte sie, und ich solle mir darum doch Musik kaufen, die mir gefällt. Es wurde 20 Greatest Hits by The Beatles, leider neuerlich auf Musikkassette. So war diese bis heute hell strahlende Sammlung von Beatles-Hits zwar mein erstes selbstgekauftes Album, nicht aber meine erste selbstgekaufte Schallplatte. Deren Vorzüge sollte ich bald überreißen (sieht besser aus, fühlt sich besser an, klingt besser, und wenn man die Musik schon auf Kassette haben will, kann man sie ja überspielen), das erste selbstgekaufte Vinyl war dann aber weniger zeitlos: Die DÖF-Platte von Tauchen/Prokopetz mit dem Hit "Codo" drauf ("und ich düse, düse, düse, düse im Sauseschritt und bring die Liebe mit von meinem Himmelsritt") ist aus heutiger Sicht bestenfalls als Austropop-Kuriosum interessant.

Nur geträumt

Nenas erste LP war 1983 natürlich auch unter meinen Taschengeldinvestitionen. Wobei es da bereits um mehr als nur um ihre Musik ging (die aber so oft gelaufen ist, dass bald auch meine kleine Schwester mitsingen konnte). Ich war erstmals Fan und vermutlich auch das erste Mal verliebt. Unser Kinderzimmer war mit unzähligen Postern tapeziert, und als ich hörte, dass die Rolling Stones in Wien ein Open-Air-Konzert spielen würden, träumte ich davon, dabei sein zu können – nicht wegen der Stones, die mir egal waren, sondern wegen Nenas Stones-Fantum, aus dem ich schloss, dass sie bei diesem Konzert anzutreffen wäre. Knapp zwei Dekaden später habe ich Nena im November 2001 zu einem Interview getroffen und ihr von meiner einstigen Schwärmerei erzählt.

"Das höre ich sehr, sehr oft", antwortete sie, "aber das ist echt verrückt. Mir erzählen auch Musiker, dass sie wegen mir angefangen hätten Musik zu machen. Oder Leute, die sagen: ‚Mit deiner Musik war ich das erste Mal unglücklich verliebt und dann hat mir das so geholfen!’ Dieses ganze Lebensgefühl eben, das ich mit den Rolling Stones, Neil Young und Bob Dylan hatte – das sollte für viele jetzt plötzlich ich gewesen sein? Ich finde diese Vorstellung total irre." Ihr Status als Sexsymbol einer ganzen Generation sei ihr damals jedenfalls kein bisschen bewusst gewesen, betonte Nena im Rückblick. "Ich habe mich nie inszeniert, und wenn irgendwo einmal der Begriff ‚Sexsymbol’ aufgetaucht war, dachte ich mir nur: sag einmal, spinnen die eigentlich? Was wollen die von mir? Erst Jahre später hat es irgendwann ‚klick’ gemacht, und ich merkte – aha, so war das also!"

Dabei war Nena vermutlich das letzte weibliche Sexsymbol, das seiner Körperbehaarung lange Zeit keine künstlichen Grenzen setzte. "Ich wusste ja nicht, dass man sich die Achselhaare rasiert und hab die immer schön wachsen lassen", erinnerte sie sich beim Interview lachend. "Ich war dann auch in England sehr erfolgreich, und bei einem Konzert hielten Fans riesige Spruchbänder in die Höhe, auf denen stand: ‚Nena, wir lieben deine haarigen Achseln!’ Ich dachte mir: ‚Hallo, was ist denn hier los?’, denn ich hatte nicht mitbekommen, dass die englische und amerikanische Boulevardpresse deshalb längst voll war mit Häme und Hass gegen mich. Nach diesem Konzert habe ich gesagt: ‚Würde mich hier bitteschön mal jemand aufklären?’, Die Freundin meines damaligen Managers ist dann mit mir aufs Zimmer gegangen und hat gesagt: ‚Komm jetzt, rasier dir die einfach mal!’ Ich fand das auch ganz schön, und seitdem mache ich das."

Into the Groove

Von langer Dauer waren meine Gefühle für Nena nicht. Ihre zweite LP blieb ungehört im Laden stehen, dafür buhlten jetzt die knallbunte Cyndi Lauper und die coole Madonna um den Status als Lieblingssängerin. Madonnas Debüt war in Österreich noch kaum wahrgenommen worden, mit dem zweiten Album "Like A Virgin" war sie 1985 aber auch bei uns allgegenwärtig. Selbst ohne MTV kannte man ihre Videos, Lieder wie "Material Girl" oder "Into the Groove" dominierten die Hitparade und über den Rest informierte "Bravo" – Madonnas Hochzeit mit Sean Penn, Madonnas Ausflüge in Sachen Film, Madonnas Nacktfotos aus der Zeit vor ihrer Sangeskarriere und und und.

Heute ist einigermaßen klar, welcher inszenatorischer Kraftakt hinter Madonnas frühen Karrierejahren steckte; damals war sie aber einfach nur eine Sängerin mit ein paar Hitsingles, die eben aufregendere Videos als die anderen hatte, einen größeren Kleiderschrank und mehr Zeit für Friseurbesuche. Gut zwanzig Jahre später respektiert man Madonna auch als alles überstrahlenden Star der jüngeren Popgeschichte und verehrt jede ihrer Platten; damals aber blieb es ein vorübergehender Flirt. Meine liebste Sandkastenfreundin war Madonna-Fan, was nahe legte, dass das Mädchenmusik sei. Was im Gegensatz dazu Bubenmusik war? So etwas wie U2 wohl – und vor allem Die Ärzte und Die Toten Hosen. Aber dazu später.

Einzelhaft

Vorerst noch einmal zurück ins Kärntner Kinderzimmer. Meine Musik musste ich anfangs übers Küchenradio oder die elterliche Anlage im Wohnzimmer hören. Zu Ostern 1983 bekam ich dann einen eigenen Radiokassettenrecorder; mein erster Plattenspieler sollte vier Jahre später folgen. Das silberne kleine Philips-Gerät genügte fürs Erste aber ohnedies zum großen Glück. Endlich konnte ich die wöchentliche Hitparade ungestört hören und all meine Lieblingslieder auf Kassette aufnehmen.

Die Kassette – die bei 60-minütiger Spielzeit ungleich mehr als ein heutiger CD-Rohling kostete – wurde auf Jahre hinaus zum wichtigsten Medium, bespielt mit Liedern aus Ö3-Sendungen wie dem vormittäglichen "Hitpanorama", dem abendlichen "Treffpunkt" oder, allen voran, Udo Hubers wöchentlicher "Hitparade". Gegen Ende der Achtziger wurden "Hitparade" und "Hitpanorama" zusehends gegen das sonntägliche "Popmuseum", fallweise den "Nachtexpress" und vor allem die anfangs noch nachmittags ausgestrahlte "Musicbox" ausgetauscht; letztere sollte in meiner mittleren und späteren Teenagerzeit zum wichtigsten Fenster zur Welt da draußen werden.

A propos Fenster zur Welt: Mit dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen war man als Kind der Achtzigerjahre gar nicht so schlecht bedient. Das mythenumrankte MTV kannte ich nur vom Hörensagen, der ORF nahm die Beschäftigung mit Jugendkultur damals aber noch ernst und fütterte meine Leidenschaft mit den Sendungen "Okay" und "Ohne Maulkorb", denen später "X-Large" folgte. Videos bekam man auch in Udo Hubers monatlicher Fernsehhitparade "Die großen Zehn" zu sehen, später auch im nachmittäglichen "Wurlitzer".

Zu "Bravo" gesellten sich "Popcorn", "Pop/Rocky" und "Rennbahn Express"; aber auch in der "Kronen Zeitung" konnte man fündig werden. Dort gab es die Jugendseite "Insider", auf der Vera Russwurm aus der Welt des Pop berichtete – was unter anderem heißen konnte, dass es da einen Beitrag zu einer Österreichtournee der Punkband Die Goldenen Zitronen gab.

Where Is My Mind?

Mein Horizont hat sich indes nur langsam erweitert. Das Intellektuellen-Popmagazin "Spex" habe ich erst Anfang 1992 kennen gelernt, dazwischen gab es diverse Ausflüge in die Welten von Metal-, Gruftie- und Erwachsenenpopblättern. Irgendwie war damals alles spannend, was mit Musik zu tun hatte: Mein erstes Pop- und Rocklexikon habe ich als Zehn- oder Elfjähriger wie einen Roman von vorne bis hinten gelesen – also buchstäblich "von Abba bis ZZ Top". Während die Radio-Tapes dieser Zeit noch vorwiegend aktuelle Hitparadensongs konservierten, wurde meine Plattensammlung unter dem Einfluss des Lexikons zum haltungsarmen Nebeneinander diverser Klassiker.

Pink Floyds Bombastrock-Kaugummi "The Wall" konnte da problemlos neben den Sex Pistols stehen, das erste Velvet-Underground-Album neben dem Woodstock-Soundtrack, der bunt schillernde Glamboy David Bowie neben der blümchenumflorten Hippie-Ikone Janis Joplin, der aufregende Soulsänger Marvin Gaye neben dem nicht ganz so aufregenden Liedermacher Cat Stevens, Softjazz von George Benson neben einer Werkschau der Punkband The Clash, die Reggae-Ikone Bob Marley neben dem Austropopper Wolfgang Ambros, der Soundtrack zur "Rocky Horror Picture Show" neben Alben der Doors, der verstaubte Jazzrock von Blood, Sweat & Tears neben dem immergrünen Funk eines James Brown.

Das Wort "Disco" hatte Mitte der Achtziger etwas Magisches, und die Figur des Hippie hat mich in den ersten Teenagerjahren ebenso fasziniert wie jene des Punk; Jimi Hendrix und Johnny Rotten waren irgendwie austauschbar und vor allem auch eines: unvorstellbar weit weg und ohne jede Entsprechung in meiner provinziellen Gegenwart. Als Kind der Postmoderne war ich zudem hineingeworfen in ein Nebeneinander von diesem und jenem; ein Angehöriger der ersten Popgeneration, die nicht mehr unbedingt nach vorne, sondern auch zurück blickte.

Take On Me

Bei aktueller Musik herrschte die Achtziger über ein ähnlich positionsarmes Nebeneinander: Kraftwerk und New Order konnten bei mirOstbahn Kurti und Guns N’ Roses nicht verhindern, The Cure mussten die Dire Straits neben sich dulden, die elegante Sade wusste nichts gegen den vorübergehend intensiv verehrten Rod Stewart auszurichten, und die coole Grace Jones musste sich den Platz im Plattenregal mit der doch sehr braven Liedermacherin Suzanne Vega teilen, während Sinéad O’Connor und Tracy Chapman zu gleichen Teilen als rebellisch verstanden wurden.

Mit 13, 14 gab es zum Drüberstreuen noch eine kurze Metalphase. AC/DC hatte mir ein Schulkollege schmackhaft gemacht, Iron Maiden, Motörhead und Ozzy Osbourne folgten, ebenso das Kasperltheater von Alice Cooper oder das sinistre deutsche Knüppelkommando Sodom. Metallica war mir auch ein Begriff, und von Slayer kannte ich immerhin das einmannzeltgroße T-Shirt eines Bekannten, das er mir an besonderen Festtagen mitsamt seiner Kutte borgte.

Die Radiotapes der erweiterten mittleren Achtziger reichten derweil von Frankie Goes To Hollywood (britischer Humor) bis zur Ersten Allgemeinen Verunsicherung (österreichischer Humor), von Sigue Sigue Sputniks Cyberpunk bis zu Modern Talkings Föhnwellendisco, vom Stimmwunder Kate Bush bis zum Busenwunder Samantha Fox, von den weltgewandten Nordlicht-Poppern A-ha bis zu den heimatlichen Provinzrockern Opus, vom britischen Faserschmeichler George Michael bis zum italienischen Schlagersänger Eros Ramazzotti.

The Message

Meine zur Gänze am Ostersonntag 1983 entstandene erste Kassette mit Radiomitschnitten besitze ich heute noch. Das mit ungelenker Schrift bekritzelte 60er-Tape von Philips, eine Beigabe zum Kassettenradio, hat eine erstaunliche stilistische Bandbreite und erinnert an die teils hohe Qualität zu dieser Zeit kommerziell erfolgreicher Popmusik.

Neben Falco ("Auf der Flucht", "Maschine brennt") und Nena ("Nur geträumt", "99 Luftballons") findet sich da unter anderem der romantische White-Funk des Culture Club ("Do You Really Want To Hurt Me", "Time"), F.R. Davids Schmachtfetzen "Words", der Reggaepop von Musical Youth ("Pass The Dutchie"), Captain Sensibles noch heute als Tanzbodenaufmischer funktionierendes "Wot" und "The Message" von Grandmaster Flash & The Furious Five feat. Melle Mel & Duke Bootee (in meiner kindlichen Beschriftung übrigens "De Mesitsch" von "Grent Masta Flesch"). Ich verstand kein Wort und hatte keine Ahnung von der musikhistorischen Bedeutung dieses Stücks, konnte es aber fast zur Gänze mitrappen.

Bis heute gilt diese wütende siebenminütige Sozialreportage aus dem New Yorker Ghetto als Mutter des politischen HipHop. Gleichzeitig ist "The Message" ein interessantes Beispiel dafür, wie wenig die Intention hinter der Produktion eines Popsongs mit dessen Wirkung gemein haben muss. Als sein vermeintlicher Schöpfer Grandmaster Flash im September 2002 zu einem Auftritt nach Wien kam, wollte ich ihn anlässlich des damals 20-jährigen Veröffentlichungsjubiläums von "The Message" zu jenem historischen Moment befragen, als die Partymusik HipHop zum politischen Medium wurde.

"Dieses spezielle Stück wurde von unserer Plattenfirma bei uns in Auftrag gegeben", gab sich die zu den Gründervätern der HipHop-Kultur zählende Legende wortkarg. "Davor war HipHop durchwegs gut gelaunte Partymusik. ‚The Message’ war ein Projekt, das sich unsere Plattenfirma ausgedacht hatte – und es sollte sich eben als ziemlich großes Projekt erweisen." Auf weiteres Nachfragen zu "The Message" reagierte er merklich genervt. Warum, verstand ich erst einige Zeit nach dem Interview: Grandmaster Flash selbst hatte mit der Produktion dieses Songs offenbar überhaupt nichts zu tun gehabt; kreiert hatte ihn vielmehr seine Plattenfirma Sugar Hill Records, um anschließend "Grandmaster Flash" aufs Cover zu schreiben, weil dieser zu diesem Zeitpunkt bereits weit über New York hinaus bekannt war.

So antwortete Flash auch mit einer beleidigten Klarstellung auf meine Frage, ob ihm persönlich der Partyaspekt der HipHop-Kultur wichtiger sei als ihre über Inhalte transportierte politische Komponente: "Grandmaster Flash ist kein Rapper. Furious Five sind Rapper. ‚The Message’ war von Grandmaster Flash and the Furious Five. Das zentrale Mitglied dieser Gruppe war Melle Mel, er hat darauf gerappt. Und er ist heute nicht hier, Flash ist hier. Also stell mir auch einige Flash-Fragen!"

Fight For Your Right (To Party)

HipHop erlebte in den frühen Achtzigern einen ersten großen Boom, wobei die ursprünglich aus vier Säulen (Rap, Plattendreherei, Breakdance, Graffitikunst) bestehende Kultur in ihrer kommerziellen Verwertung damals nicht wie heute auf den Rap, sondern aufs Breakdancing reduziert wurde. "Bravo" veröffentlichte 1984 eigene Sonderhefte mit Breakdance-Anleitungen, woraufhin auch ich mich im Wohnzimmer als Frosch versuchte und meinen Rücken vergeblich auf seine Eignung als Kreisel überprüfte. Die amerikanische Breakdance-Formation The Rock Steady Crew hatte mit "(Hey You) The Rock Steady Crew" einen Welthit, diverse – von "Bravo" ausführlich vorgestellte und damit auch ohne Kinobesuch bekannte – Filme beschäftigten sich mit der Tanzform. Als eigenständiger Musikstil – und vor allem: als eine eigene, vom weithin gitarrenorientierten Rock- und Popgeschehen ein Stück weit abgekoppelte Kultur – hatte sich HipHop in der öffentlichen Wahrnehmung aber noch lange nicht etabliert.

Mein Hauptschulfreund (der heutige ÖVP-Mann) hatte zwar sehr zeitig eine LL-Cool-J-Platte, aber das wurde einige Jahre nach "The Message" und "Hey You" ebenso als ein Novelty-Ding wahrgenommen wie die Beastie Boys mit ihrem "Fight For Your Right To Party", Run DMC mit "Walk This Way" oder Cameo mit "Word Up". Dass HipHop tatsächlich eine eigene Kultur ist, realisierte ich erst infolge von Tone Loc Singles "Wild Thing" und "Funky Cold Medina" sowie De La Souls "Me, Myself & I". Politische Rapgruppen wie Public Enemy und Boogie Down Productions habe ich dann erst Anfang der Neunziger entdeckt, ebenso bereits in den Achtzigern entstandene HipHop-Meisterwerke von Formationen wie Eric B. & Rakim, N.W.A. oder EPMD.

Just Can’t Get Enough

Dass unter den eben erwähnten Acts mit den Beastie Boys auch bis heute erfolgreiche Langzeitsuperstars vertreten sind, ist kein Zufall. Vermutlich waren die Achtziger die letzte Dekade, in denen sich abseits kurzfristiger Gewinn-und-Verlust-Rechnungen der großen Plattenfirmen nachhaltige Popkarrieren echter KünstlerInnenpersönlichkeiten aufbauen ließen; nach wie vor ist die Liga der absoluten Popsuperstars durchwegs von Achtzigerjahrefiguren geprägt.

Depeche Mode etwa, die Anfang der Dekade das Ärgste überhaupt waren: Die Band bestand zwar aus vier Leuten, aber es gab weder eine Gitarre, noch einen Bass oder ein Schlagzeug. Stattdessen standen sie alle an elektronischen Gerätschaften, "Synthies" genannt, und spielten Musik, die eben irgendwie anders war.

Ähnliches gilt für die einige Jahre später aufgetauchten Pet Shop Boys, bei denen dieses Konzept durchs Duoformat noch radikalisiert wurde: der eine sang, der andere kümmerte sich um die maschinellen Klänge. Das irritierte, aber es gefiel. Vor allem die Pet Shop Boys waren mit frühen Singles wie "West End Girls" oder "It’s A Sin" auch big in Himmelberg, Depeche Mode lernte ich erst mit 14 durch ihr Live-Doppelalbum "101" wirklich zu schätzen.

Auch U2, R.E.M. und die Red Hot Chili Peppers haben ihre Wurzeln in den Achtzigern. Aus dem Quartett der alles bestimmenden Solokünstler dieser Zeit hat sich eigentlich nur Michael Jackson irgendwann den Boden unter den Füßen weggezogen. Madonna und Bruce Springsteen sind praktisch unantastbar, und selbst Prince feierte nach langjähriger Auszeit im Schmollwinkerl zuletzt wieder Erfolge.

1983/84 war der spätere Spinner Michael Jackson als "King of Pop" noch der Allergrößte. Sein Album "Thriller" überstrahlte alles, seine Video setzten neue Maßstäbe, und gemeinsame Fotos mit Ronald Reagan verdeutlichten, dass das ja wohl wirklich mehr als einfach nur ein Popsänger sein musste. Lange hat diese Einschätzung nicht gehalten. Das Album "Bad" zementierte zwar seinen Ruf als größter Popstar der Achtziger, gefallen hat es mir aber nicht mehr. Und auch seine Marotten begannen zu nerven: War sein Getue – ein Bad im Sauerstoffzelt hier, eine Mundschutzmaske da – zuvor noch als Selbstverständlichkeit eines schier überirdischen Wesens durchgegangen, empfand ich seine Sonderbarkeiten zwischen Affenzirkus und frisch geschnitztem Gesicht jetzt als völlig überflüssig.

Prince, der um 1984 herum zum Jackson-Kontrahenten stilisiert wurde, wirkte ungleich weniger durchgeknallt, und er war auch weit produktiver. Auf einen neuen Jackson-Song schienen zehn neue Prince-Songs zu kommen, was letztlich auch zum Problem wurde: Irgendwann war es einfach zu viel des Guten; die in den Achtzigern gekauften LPs "Purple Rain" und "Sign ’O’ The Times" schätze ich allerdings noch heute.

Bleiben noch U2, R.E.M. und die Red Hot Chili Peppers. Aufgetaucht waren sie alle mit dem Versprechen einer gewissen Andersartigkeit, und letztlich sollte dieser diffuse Hauch des Alternativen alle drei Weltkarrieren bis heute prägen. Von R.E.M. kaufte ich mir in den Achtzigern die LP "Document" mit dem ursprünglich einmal mehr via "Treffpunkt Ö3" in Himmelberg angekommenen Übersong "The One I Love", von U2 "War" mit dem Hit "Sunday Bloody Sunday". Von R.E.M. sollte noch einiges folgen, bei U2 finde ich noch heute mit "War" das Auslangen. Die Red Hot Chili Peppers wiederum waren für mich dereinst die Band mit dem Drogenproblem und dem Foto mit den Socken auf den Schwänzen. Ihre Musik habe ich die Achtziger über nie bewusst gehört.

We Are The World

Während R.E.M. und die Red Hot Chili Peppers erst in den frühen Neunzigern vom Geheimtipp zu millionenschweren Popstars aufstiegen, explodierten U2 bereits Mitte der Achtziger. Verantwortlich dafür war nicht zuletzt ihr Auftritt bei Bob Geldofs Konzertmarathon "Live Aid", der am 13. Juli 1985 in London und Philadelphia stattfand. Begonnen hatte der Pop-Benefiz-Boom in der Vorweihnachtszeit 1984, als Geldof mit dem britischen Popstargroßaufgebot Band Aid die Single "Do They Know It’s Christmas" veröffentlichte. "Ganz Äthiopien verhungert, aber wir können helfen", lautete die Botschaft, und es war selbstverständlich, das inhaltlich voll gut zu finden. Weitere Veröffentlichungen folgten – "We Are The World" von USA For Africa mit einer von Michael Jackson bis Bruce Springsteen und von Stevie Wonder bis Bob Dylan reichenden Superstarparade –, die deutsche Band für Afrika oder das heimische Projekt Austria für Afrika.

"Live Aid" markierte den Höhepunkt der Hilfsaktionen, ein auf zwei Kontinenten gleichzeitig ausgetragenes und weltweit live im Fernsehen übertragenes Mammutkonzert, das für mich gerade Elfjährigen ungefähr Ostern, Weihnachten und Geburtstag in einem bedeutete. Dass man dem ganzen Spektakel auch kritisch gegenüberstehen konnte und die beteiligten Künstler eventuell nicht nur die Rettung der Welt im Sinn hatten, dämmerte mir erst Jahre später, als ich die ursprünglich schon 1986 erschienenen Platte "Pictures Of Starving Children Selling Records" der britischen Agit-Pop-Band Chumbawamba entdeckte.

Überhaupt hatte Popmusik, die mit politischer Bedeutung versehen war, damals noch etwas Nicht-Hinterfragbares. Elton Johns "Nikita" etwa war zwar eine ziemlich öde Schnulze, da die besungene Nikita aber – das Video klärte auf – eine hinterm Grenzbalken gefangene Ostblock-Soldatin war, wurde es gleich einmal wertgeschätzt. Ebenso "Sonderzug nach Pankow", Udo Lindenbergs Grußbotschaft an den Berliner Osten, oder der nicht wirklich aufregende, aber im Dienst einer guten Sache stehende Rocksong "Sun City" von Artists United Against Apartheid. Und selbst "Wind Of Change" der Scorpions, diese Schnulze gewordene Dokumentation der Politik Gorbatschows, fand man als junger Mensch in der Kärntner Provinz noch irgendwie gut – wie "Gorbi" als Person sowie die Öffnung der ungarischen Grenze und den Fall der Berliner Mauer als historische Ereignisse.

Claudia hat ’nen Schäferhund

Die zuvor begonnene Aufzählung noch heute erfolgreicher Superstars mit Achtzigerjahreverwurzelung ließe sich noch um eine Reihe illustrer Namen erweitern; Mainstream-Ikonen wie Kylie Minogue oder George Michael gehören da ebenso dazu wie die Heavy-Metal-Schwerstverdiener Metallica oder alternative Popstars à la Björk und Nick Cave. Im deutschsprachigen Raum sieht es ähnlich aus: der seit vielen Jahren bei weitem erfolgreichste Solokünstler, Herbert Grönemeyer, ist in den Achtzigern groß geworden, genau wie die ursprünglich aus dem Punkunderground stammenden Bands Die Ärzte und Die Toten Hosen. Zwischen 1987 und 1989 hatte ich zu beiden ein sehr inniges Verhältnis; die Gretchenfrage "Hosen oder Ärzte?" hat sich für mich so nie gestellt, obwohl die Düsseldorfer erst im Windschatten der Berliner bei mir angekommen waren. Die Ärzte hatten schon 1984 eine große Faszination ausgeübt. "Bravo" begann in diesem Jahr, ausführlich über sie zu berichten, und ich wurde zum Fan, ohne einen Ton ihrer Musik gehört zu haben. Mir gefiel, wie sie aussahen, mir gefiel das Chaos, das sie inszenierten, mir gefiel der Bandname, mir gefiel das gesamte Image. Die Musik brauchte ich fürs Erste gar nicht zu hören (wo hätte ich sie 1984 auch hören sollen?), um zu wissen, dass Die Ärzte interessant und vor allem auch irgendwie anders waren.

Wie die drei Berliner mit ihrer noch völlig unbekannten Band überhaupt zu derart prominenten Auftritten im Teenagerleitmedium der deutschsprachigen Jugend kommen konnten? Der Chef sei auf Urlaub gewesen und ein junger Redakteur habe sich derweil die Indie-Bands als neues Thema ausgedacht, erklärte mir das Ärzte-Drittel Farin Urlaub 2003 im Interview: "Darauf gab es so viel Resonanz, dass der Chef das bei seiner Rückkehr nicht mehr zurücknehmen konnte. Später kam sogar der Erfolg, der das gerechtfertigt hat; am Anfang war es aber ein völliges Wagnis. Uns war es zwar ein bisschen unheimlich, gleichzeitig hatten wir uns aber schon bei unserem ersten Auftritt vor fünfzig Leuten in einem besetzten Haus als Punks hingestellt und gesagt: ‚Wir sind Popstars!’ Das war unsere Art von Humor." Was es mit dieser Art von Humor auf sich hatte? "Wir wollten weg von punktypischen Parolen wie ‚Die Bullen sind Scheiße!’ und haben dann eben über Sachen wie Teenagerliebe, Pickel und solchen Scheiß gesungen. Dass das letzten Endes aufgegangen ist, ist einer der größten Treppenwitze der deutschen Rockmusik – ziemlich bizarr."

Die ersten beiden Ärzte-LPs haben sich unmittelbar nach ihrer Veröffentlichung aber trotz "Bravo"-Berichterstattung und Unterstützung einer großen Plattenfirma nicht wirklich gut verkauft. Beim Debüt "Debil" seien es für damalige Verhältnisse lächerliche 20.000 Stück gewesen, erzählte der Ärzte-Schlagzeuger Bela B. im Mai 2006 in einem Gespräch zu seiner ersten Soloplatte; bei der nächsten dann 30- bis 40.000: "Das ging relativ schleppend, was uns natürlich ein bisschen aus dem Fokus der Chefetage gerückt hat. Die Leute haben immer gesagt: So lange sie ihre Kosten einspielen, können sie machen, was sie wollen; wir halten uns mal die Deppen." Mit ihrem schlicht "Die Ärzte" betitelten dritten Album schien die Band am Ende angelangt zu sein: Ihr Bassist war ausgestiegen und die Platte landete in Deutschland am Index für jugendgefährdende Schriften, durfte an Personen unter 18 also nicht verkauft werden. Tatsächlich ging es durch diese Aufregung aber erst richtig los, die "erlaubten" Songs der Ärzte wurden jetzt auch auf Ö3 gespielt und ihre Platte endlich bis in mein Feldkirchner Plattengeschäft ausgeliefert.

My Nation Underground

Der Weg zu einem eigenständigen Musikgeschmack und vor allem: zu Platten abseits von Hitparadenpop und diversen Pop-Klassikern hätte in meiner Himmelberger Abgeschiedenheit mühseliger kaum sein können. Letztlich waren es wohl Die Ärzte und Die Toten Hosen, die mein Interesse für jene alternativen Welten weckten, die in den Achtzigern noch ganz einheitlich unter dem Begriff "Undergroundmusik" laufen konnten. Meine ersten "Undergroundplatten" kamen von Cure, den Sex Pistols, Drahdiwaberl, Sisters Of Mercy, den Goldenen Zitronen, New Model Army, Phillip Boa & The Voodoo Club, Sugarcubes, The Clash, Einstürzende Neubauten, New Order, Pixies, Fugazi, der Wiener Band Bomb Circle und The Smiths. Für letztere war ich eindeutig noch zu früh dran; anstatt von Morrissey an der Hand durch meine Kärntner Jugend geführt zu werden, blieb die Band wie so vieles ein Fall für die spätere Entdeckung.

Erstmals gehört hatte ich The Smiths schon mit 13 oder 14 bei Angelika Lang im Treffpunkt Ö3. Sie spielte da ein Lied, von dem ich erst geraume Zeit später erfahren sollte, dass es "Panic" heißt und die am Ende ständig wiederholte Schlüsselzeile "hang the DJ" lautet. Vor dem Radiogerät sitzend verstand ich stattdessen "hang the teacher" und besuchte tags darauf den Plattenladen in Feldkirchen, um im dort aufliegenden heiligen Buch – einem großformatigen Wälzer aller lieferbaren Schallplatten – nach der Smiths-Platte mit dem Stück "Hang The Teacher" zu suchen. Am nächsten kam dem in meiner Logik "The Headmaster Ritual", enthalten auf der zweiten Smiths-LP "Meat Is Murder", die dann auch bestellt wurde. Eine Woche darauf ärgerte ich mich nach zweimaligem Hören über 179 schlecht angelegte Schilling, wurde darauf doch nachweislich kein Lehrer gehängt und auch kein vergleichbarer Hit geboten.

You Think You’re A Man

Da ich beim ersten Anlauf kein Smiths-Fan wurde, konnte ich auch nicht mitbekommen, was für ein interessantes Spannungsfeld zwischen dem typischen Bild des stets von schönen Frauen flankierten Popstars und der asexuellen Figur Morrissey herrschte. Mögliche Abweichungen von klassischen heterosexuellen Normen habe ich trotzdem über den Pop der Achtziger kennen gelernt. Am spannendsten war dabei der junge Boy George, der als Sänger der Gruppe Culture Club berühmt wurde. Ein gutes Jahrzehnt, bevor der Begriff "Gender" Eingang in meinen Wortschatz fand, wirkte dieser schillernde Typ, der sich auffällig schminkte, bisweilen Frauenkleider trug und sehr feminin aussah, nicht nur faszinierend, sondern auch verwirrend. Von wegen: Warum zieht sich der so an? Warum richtet sich der so her? Oder ist er vielleicht doch eine sie? Und wenn er ein er ist und tatsächlich einen anderen Musiker der Band liebt – heißt das dann, dass bei homosexuellen Paaren immer einer aussieht wie eine Frau?

Knapp nach Boy George tauchte Divine in der Hitparade auf; eine als Darstellerin in John-Waters-Filmen bekannt gewordene kugelrunde Kunstfigur, die mit Songs wie "Shoot Your Shot" oder "You Think You’re A Man" auch eine kurze Popkarriere hatte. Während Boy George seine männliche Identität letztlich doch im Namen festgeschrieben hatte, war von Divine immer nur als Frau die Rede. Dass diese Frau von einem Mann verkörpert wurde, habe ich erst einige Zeit nach dem begeisterten ersten Hören von "Shoot Your Shot" mitbekommen; ganz verständlich war es für mich als Neunjährigen freilich nicht, wie jemand gleichzeitig Frau und Mann sein kann. Und dass Divine zuallererst einmal eine Frau sei, verdeutlichte schließlich jedes Foto.

Als nächstes sorgten Frankie Goes To Hollywood für Aufsehen. Sie hatten nicht nur offen homosexuelle Bandmitglieder, sondern debütierten auch noch mit einer lustbetonten Sex-Hymne, die von manchen Radiostationen wegen angeblicher Obszönität boykottiert wurde ("Relax"). Mit der dritten Single, dem Liebeslied "The Power Of Love", folgte die große Versöhnung; dazwischen hatte die Band mit "Two Tribes" noch einen Skandal lanciert. Das Lied kommentierte das weltpolitische Klima zu Zeiten des Kalten Krieges; im zugehörigen Aufreger-Video führten zwei den damaligen Präsidenten der Weltmächte frappant ähnlich sehende Figuren einen schmutzigen Ringkampf, der im wahrsten Sinne des Wortes unter der Gürtellinie ausgetragen wurde.

Während schwule Popmusiker in den Achtzigern also sehr präsent waren – Boy George und Frankie Goes To Hollywood folgten Synthiebands wie Bronski Beat, die Communards oder Erasure – suchte man nach weiblichen Entsprechungen vergeblich. Annie Lennox, die Sängerin der Eurythmics, wich in ihrem maskulinen Auftreten zwar ebenso wie die nicht zufällig als "raubtierhaft" beschriebene Grace Jones vom Bild klassischer Weiblichkeit ab und Cyndi Lauper vermittelte zumindest eine Ahnung davon, dass Mädchen nicht zwingend auf die Jungs angewiesen wären, wenn sie Spaß haben wollten; die ersten offen mit lesbischen Images kokettierenden Mainstream-Popstars sollten mit dem russischen Duo t.A.T.u. aber erst in den Nullerjahren auftauchen. Produziert wurden sie – eine nicht ganz uninteressante Fußnote der Popgeschichte – übrigens von Trevor Horn, dem einstigen Sound-Mastermind hinter Frankie Goes To Hollywood.

Smells Like Teen Spirit

Blickt man ohne schenkelklopferische Absicht ("Diese Frisuren! Diese Klamotten") auf die Popmusik der Achtziger zurück, wirkt diese Dekade deutlich besser als ihr Ruf. Die frühen Jahre waren noch stark von den Ausläufern des Punk geprägt, in den mittleren Achtzigern folgte diesem Verklingen der letzten wirklichen Rock’n’Roll-Revolte die große Orientierungslosigkeit bzw. der Rückzug in den Underground, während an der Oberfläche die völlige Bedeutungslosigkeit (prototypisch verkörpert durch Modern Talking) mit bedeutungsschwerem Rockmusikantentum der alten Schule (U2, Bruce Springsteen & Co) konkurrierte und Pop mittendrin auch noch zur globalen Wohltätigkeitsveranstaltung wurde (Band Aid und die Folgen).

Die in den späten Achtzigern bereits in voller Blüte stehenden Independent-Netzwerke, eine vitale US-amerikanische HipHop-Szene sowie das vermehrte Einsickern elektronischer Produktionsmittel und Clubkulturversatzstücke (man denke nur an Chartserfolge der späten Achtziger wie die Sampleorgie "Pump Up The Volume" von M.A.R.R.S. , "Beat Dis" von Bomb The Bass, "Pump Up The Jam" von Technotronic oder das Frühwerk von Soul II Soul) nahmen bereits die Entwicklung der Neunziger vorweg: Grunge, der Aufstieg von HipHop zur – US-amerikanischen – Mainstreampopsprache und die Omnipräsenz elektronischer Musik im – europäischen – Pop (anhand großer Synthiebands wie Depeche Mode, Soft Cell, New Order oder der Pet Shop Boys lässt sich letzteres auch in die erste Hälfte der Dekade rückdatieren). Noch etwas ist interessant: Obwohl der klassische Rock’n’Roll mit Punk an einem Endpunkt angekommen war, tauchten die für die spätere Entwicklung der Popkultur so zentralen Begriffe "retro" und "Revival" in den Achtzigern praktisch noch nicht auf.

Kapiert habe ich all das erst einige Zeit nach dem Ende des Jahrzehnts. Und obwohl ich den Pop der Achtziger – zumindest in seiner kommerziell erfolgreichen Ausformung – zwar beinahe von Beginn an bewusst erlebt habe, ist es in Sachen Sozialisation für mich erst mit 16, 17 wirklich interessant geworden. Im Sommer 1990 habe ich innerhalb von zwei Wochen David Bowie (in Linz) und die Pixies (in Wien) live gesehen und erstmals einen echten Undergroundplattenladen (das längst verblichene Why Not in der Wiener Otto-Bauer-Gasse) betreten. Spätestens mit Nirvanas "Nevermind" (Herbst 1991) und Blumfelds "Ich-Maschine" (Anfang 1992) war dann endgültig nichts mehr, wie es vorher war. Der Weg dorthin gestaltete sich – der Provinz sei Dank – lang und verworren. Aber wie heißt es in "Smells Like Teen Spirit": "I found it hard, it was hard to find/Oh well, whatever, nevermind."
(Gerhard Stöger, in: "Generation Sexkoffer" (Hrsg: Martin Wassermair, Sieglinde Rosenberger), Löcker Verlag, Wien 2007)

Zur Person
Gerhard Stöger wurde 1974 geboren, lebt und arbeitet seit 1994 in Wien. Der Politikwissenschafter und Schallplattensammler schreibt als freier Journalist über Popmusik (vorrangig für den Falter).