Armutsexperte Martin Schenk: Wenn Kinder zuhause keinen eigenen Schreibtisch haben, dann sind sie in der Schule benachteiligt.

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Stephan Schulmeister warnt vor reinen Marktlösungen.

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Karl Wurm: Der soziale Vergleich bestimmt das Glück.

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"In den Vororten von Paris konnten wir beobachten, was für eine soziale Sprengkraft eine schlechte Wohnversorgung und segregierte Wohnverhältnisse haben können." Mit diesen Worten eröffnete Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie und der Armutskonferenz, seinen Vortrag über gesellschaftspolitische Aspekte der Wohnversorgung. Die französischen Jugendrevolten von 2005 wären die Folge eines breiten politischen Versagens gewesen, in dem die anonymen Wohnblocks der Banlieues eine zentrale Rolle gespielt hätten.

Aber auch in Österreich leiden Hunderttausende an ihrer Wohnsituation, sagte Schenk. "61.000 armutsgefährdete Kinder leben in überbelegten Wohnungen. Das heißt, sie haben zu wenig Platz zum Spielen und Arbeiten, keinen eigenen Schreibtisch." Dies benachteilige sie in der Schule und verhindere spätere Aufstiegschancen.

"Armutsinseln"

Schenk verwies auch auf die Lärm- und Gesundheitsbelastung in Wohnhäusern an verkehrsreichen Straßen sowie das Problem "stigmatisierter Wohngebiete" vor allem bei beruflichen Bewerbungen. Anders als in anderen Großstädten gebe es in Wien keine Slumbezirke, sehr wohl aber "Armutsinseln" auf bestimmten Straßenzügen.

"Soziale Wohnprobleme verschärfen sich immer dann, wenn es zu einer Verringerung preisgünstiger innenstadtnaher Altbauwohnungen kommt und zu nicht ausreichender Bautätigkeit im sozialen Wohnbau", sagte er. Eine gute Wohnversorgung sei laut internationaler Studien eine der wichtigsten Strategien der Armutsbekämpfung.

Soziale Segregation durch Ghettobildung gilt als einer der größten Missstände, aber Christoph Stoik, Sozialexperte vom FH Campus Wien, hält auch die "gute Durchmischung nicht für die Lösung". Gerade für Migranten sei es oft von Vorteil, unter Landsleuten zu wohnen, bei denen sie Anschluss und berufliche Hilfe erhalten. Notwendig sei allerdings "eine Ausdifferenzierung von Lebensstilen, Milieus und Interessen" und ein aktiver Moderationsprozess zwischen verschiedenen Gruppen. Die größten Spannungen bestünden zwischen inländischen Absteigern und Ausländern, deren Aufstieg blockiert wird. Hier seien die Hausverwalter gefordert, für Kommunikation und Ausgleich zu sorgen.

Mischung von Staat und Markt notwendig

In Frankreich ist die staatliche Planung schuld an der Wohnmisere in den Vororten. Aber noch gefährlicher sei es, die Wohnungswirtschaft dem Markt zu überlassen, wie es von neoliberalen Ideologen gefordert werde, warnte der Wifo-Ökonom Stephan Schulmeister. Die Konsequenzen könne man derzeit in der US-Immobilienkrise beobachten. "Selbst konservative Parteien in Europa anerkennen die Notwendigkeit staatlicher Interventionen im Bereich der Wohnungswirtschaft, sei es durch gesetzliche Regulierungen oder durch finanzielle Förderungen", betonte Schulmeister. Man habe erkannt, dass "reine Marktlösungen nicht nur zu unsozialen Ergebnissen führen, sondern gleichzeitig auch zu ökonomisch höchst ineffizienten".

Vor allem aber könne nur durch eine Mischung von Staat und Markt jene Lebenszufriedenheit erzielt werden, die das eigentliche Ziel der Politik sein sollte. Das hätte die neue Disziplin der Glücksforschung gezeigt.

Lebenszufriedenheit hänge von Faktoren wie Persönlichkeit, Gesundheit, Lebensstandard, Bildung, Beruf und dem sozialen Umfeld ab, erläuterte der Bundesobmann der österreichischen Gemeinnützigen, Karl Wurm. Entscheidend sei das Wohnumfeld, denn von ihm werden wiederum Faktoren wie die soziale Lage, die Kriminalitäts- und Arbeitslosenrate, die Umweltqualität, der Freizeitwert und die sozialen Kontakten mitbestimmt.

Vor allem aber sei die Wohnumgebung "der soziale Vergleichsmaßstab, der 'point of reference' für die Lebenszufriedenheit", sagte Wurm und verwies ebenso wie Schulmeister auf die Erkenntnisse von Daniel Kahneman, dem Begründer der modernen Glücksforschung. "Die Einschätzung über die Qualität des eigenen Lebens bemisst sich nicht allein an der absoluten Höhe dessen, was eine Person materiell und sozial erreicht hat, sondern hängt von Vergleichen mit sozialen Normen ab." So bieten die sozial funktionierenden Wohnanlagen der Gemeinnützigen oft mehr Zufriedenheit als so manches teurere private Wohnhaus. (ef, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.11.2007)