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"Der mit unermüdlichem Einsatz ausgetragene Kampf der Besatzung gilt dem Erhalt des Lebens": Peter Vujica, ehemaliger Chef des Kulturressorts dieser Zeitung und Musikkritiker, im November 2007.

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Die Diagnose lautete "Akute myeloische Leukämie" (Blutkrebs in seiner aggressivsten Form). Meine Chance zu überleben schätzten die Ärzte auf weniger als ein Prozent. In einem sogenannten "Begleitzimmer" hätte meine Frau mir den letzten Beistand leisten sollen. Doch für mich war der Tod nie ein Thema. Die einzige Sorge, die ich bei meiner Einlieferung in die Abteilung für Hämatologie des Grazer Landeskrankenhauses hatte, galt einem Einzelzimmer.

Es war das erste Mal, dass ich in ein Spital gebracht wurde, und der Gedanke, ich müsste nun das Schnarchen eines Zimmernachbarn ertragen, war für mich unerträglich. Als man mir sagte, auf der ganzen Abteilung gäbe es kein einziges Einbettzimmer, bettelte ich flehentlich darum, mich im Untersuchungszimmer nächtigen zu lassen. Begreiflicherweise wurde dies abgelehnt.

"Ohnmacht"

Worauf ich mit einer drei Wochen währenden Bewusstlosigkeit reagierte. Doch es war keine Ohnmacht im landläufigen Sinn. Nachträglich meine ich, dass mich mein Unterbewusstsein in einen Zustand versetzte, der mich die Dinge, die um mich passierten, auf gnädige Weise nicht – oder ganz anders – wahrnehmen ließ. Ich denke, im Krankenbett herrschen zum Glück andere Gesetze als außerhalb desselben.

Aufregung

So erlitt ich einen Herzinfarkt, der mir als solcher gar nicht bewusst wurde. Ich fühlte nur, dass Schwester Maria und Professor Neumeister sehr aufgeregt waren. Trotz allem dachte ich niemals, dass ich in akuter Lebensgefahr war. Wochen später sagte mir Professor Neumeister, als ich mich wegen irgendeiner Lappalie beschwerte, gewissermaßen zur Rechtfertigung: "Einen Herzinfarkt haben Sie gehabt, Nierenversagen haben Sie gehabt, wir haben damals ja nicht einmal gewusst, ob wir Sie drüberbringen."

Traum und Wirklichkeit

Mitunter ergänzte ich Segmente der Wirklichkeit auch durch Träume. So meinte eine Schwester, man sollte mir die Haare scheren. Sie könnten Keime enthalten und würden mir im Verlauf der Chemotherapie ohnedies ausgehen. Meine Frau entgegnete, dass dies für mich wohl ein "Tabuthema" sei. Mir kam dieses Wort als der reale Kern eines Traumes ins Bewusstsein: Wir saßen in einem Lokal beim Abendessen, und im Verlauf des Gesprächs fiel dieses Wort im gleichen Kontext. Und in einem anderen Traum hielt mich Brigitte, eine befreundete Psychologin, wie einen Säugling im Arm, während ich mir die operativ in die Halsvene gesetzten Infusionskatheter, den so genannten Cover, aus der Vene riss. Dass mich auch die kräftigste Frau nicht auf den Arm nehmen kann, ist klar. Wohl aber entfernte ich im Schutz dieses Traumes den Cover zum Missfallen der Ärzte tatsächlich aus meiner Brust.

Vorhang

Und als sich meine Frau mit Brigitte einmal von meinem Krankenbett entfernte, rief ich den beiden das Wort "Trauerarbeit" nach. Dieses Wort legt den Verdacht nahe, irgendwie hätte ich ja doch gewusst, wie es um mich bestellt war, doch bis in meine durch Endorphine oder durch eine retrograde Amnesie abgeschirmte innere Welt ist dieses Wissen nicht vorgedrungen.

Doch irgendwann hob sich dieser Vorhang, und die kleine Welt des Krankenzimmers und des zugehörigen Nachtkästchens wurde auf schonungslose Weise sichtbar. Plötzlich liegt man da und weiß, dass es einen gibt. Mehr war es nicht. Durch die ebenfalls erfolgten Einblutungen in das Hirn konnte ich nur schwer sprechen. Die medizinische Bezeichnung dafür lautet "Wortfindungsstörungen". Ich wollte etwas sagen, doch entweder fehlten mir die Wörter oder ich wusste nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte.

Wortlosigkeit

Mit bewundernswerter Geduld versuchten die Schwestern den Sinn meines Gestammels zu erraten. Und wenn nicht, meinten sie, "es wird Ihnen schon einfallen", und entfernten sich. Professor Jäger bedauerte bei der Visite immer wieder, dass diese Wortfindungsstörungen gerade bei einem Mann auftreten müssen, der im Standard schreibt. Und Frau Oberärztin Zinke ergriff meine Hand und sagte, sie möchte bald wieder im Standard eine Kritik von mir lesen.

"Bald" ist gut. Ich bemerkte nämlich, dass ich nicht nur nicht sprechen, sondern auch nicht lesen konnte. Nicht einmal die Uhr, die gegenüber meinem Bett hing. Schüchtern fragte ich die Schwestern, wie spät es sei. Denn auch im Krankenbett, von dem noch immer nicht sicher war, ob es nicht doch das Sterbebett sein sollte, legte ich größten Wert auf Pünktlichkeit. Daher musste mir meine Frau die Zeit ihres täglichen Erscheinens auf die Minute genau sagen.

Hören

Das Einzige, was ich damals noch konnte, war hören. So begann ich mir die Architektur der Abteilung akustisch zu erschließen. Zunächst hörte ich nur die langgezogene große Terz des Liftsignals. Bald kundschaftete ich aus, in welche Richtung das Pflegepersonal die Harnflaschen und die Leibschüsseln verbrachte. Ebenso wie ich das Rumpeln des Gefährtes erkannte, auf dem das Essen angekarrt wurde. Und sehr bald konnte ich die ganze Belegschaft an ihren Stimmen identifizieren. Und nach einiger Zeit die wichtigsten Personen auch am Schritt. Das Knirschen der Gummisohlen von Professor Neumeister habe ich noch heute im Ohr. Und auch den schleifenden Schritt meiner Frau. Oder den soldatischen Gang von Brigitte, die jeden Samstag von Wien zu mir nach Graz fuhr, um meiner Frau wenigstens einen spitalsfreien Tag pro Woche zu ermöglichen.

Der Tod, kein Thema

Dass sich meine Blutbefunde zur allgemeinen Überraschung nach und nach besserten, quittierte ich mit einer gewissen Gelassenheit. Der Tod, so nahe ich ihm gewesen bin – oder noch immer war –, war für mich nach wie vor kein Thema. Ich wüsste auch gar nicht, wann ich die Zeit gehabt hätte zu sterben. Ich war von früh bis in die Nacht beschäftigt. Schon morgens um sieben unterzog man mich einer der schlimmsten Torturen, der täglichen Körperpflege.

Waschritual

Zwei Schwestern näherten sich meinem Bett mit einem Lavoir und begannen mich mit einem Waschfleck zu reinigen. Dieses Ritual erinnerte mich an meine Kindheit, in der ich ebenfalls, während man mich wusch, regelmäßig zu weinen begann. Schließlich kam die Frage, ob ich bei der Säuberung "des Genitals" vielleicht nicht selbst Hand anlege. In besagtes Genital war aber schon seit Wochen ein Katheter gesetzt, sodass ich jegliche Berührung desselben, durch wen auch immer, zu meiden trachtete.

Keine Hexerei

Dann kam das Frühstück. Bei diesem genoss ich die Anerkennung seitens der Schwestern, weil ich sehr bald das "Querbettsitzen" beherrschte. Es ist keine Hexerei. Man sitzt auf dem Bettrand und lässt die Beine nach unten baumeln. Aber noch wusste ich nicht, dass ich aus Schwäche gelähmt war. Dies wurde erst anlässlich des Versuches, mich abzuwiegen, offenbar. Ich sackte zusammen. Mein Körpergewicht blieb vorderhand ein Rätsel.

"Große Schritte"

Also überantwortete man mich Eva, einer Physiotherapeutin. Sie zwang mich in energischen Worten mithilfe eines in ekelhaftem Gelb gestrichenen Gestells "große Schritte" zu machen, wozu ich natürlich auf für sie nur höchst unbefriedigende Weise in der Lage war. Doch nach wenigen Tagen schon konnte ich auf eine konventionelle Gehhilfe umsteigen und nach zwei Monaten erstmals das Zimmer 21 verlassen. Ich fühlte mich wie ein siegreicher Feldherr auf seinem Triumphwagen, als ich, den Katheter neckisch an meine Gehhilfe geheftet, die Gänge auf und nieder fuhr und die hämatologische Abteilung nun endlich auch optisch erkunden konnte. Professor Jäger huldigte mir mit ermutigendem Winken.

Schulmediziner

Im Verlauf meiner Patrouillen fiel mir alsbald ein Glasverschlag auf, der aussah wie ein Aquarium. Darin meditierten die Professoren, Oberärztinnen und Oberärzte, gemeinsam mit den Schwestern über die Krankengeschichten gebeugt, die teilweise so dick wie Messbücher waren, und tüftelten an den Therapien. Hier wurde über Wohl und Wehe des Patienten entschieden. Oberarzt Staber wählte meinen Fall sogar zum Thema für seine Habilitation.

Ich für meinen Teil stellte ein mir bisher gänzlich fremdes Grundvertrauen in die der Schulmedizin frönenden Ärzte fest. Als rigoroser Anhänger alternativer Heilmethoden hätte ich jede Chemotherapie selbstverständlich abgelehnt. Doch offenbar hat es das Schicksal gut mit mir gemeint, und ich war bei deren Beginn nicht bei Bewusstsein. Und die ermutigenden Ergebnisse, die sie zeitigte, bewogen mich, auch einer zweiten und dann noch einer dritten "Chemo" zuzustimmen. Zumal, wie ich mittlerweile von kundigen Informanten erfuhr, die Grazer Hämatolgie europaweit einen ausgezeichneten Ruf genießt.

Unterschrift

Ich sollte ein Faszikel unterschreiben, in dem die eventuellen nachteiligen Folgen einer solchen "Chemo" aufgelistet waren. Dass ich den Inhalt desselben damals noch nicht lesen konnte, empfand ich geradezu als Erleichterung. Doch als es an die Unterschrift ging, merkte ich, dass ich auch das Schreiben verlernt hatte. Also brachte meine Frau am nächsten Tag ein großes Heft, mittels dessen ich mühsam, zunächst nur durch das Zeichnen von Blockbuchstaben, an meiner Realphabetisierung arbeitete.

Ein Gestell wie ein Christbaum

Das erwähnte Aquarium ist gewissermaßen das Gehirn der Abteilung. Dort wird auch festgelegt, welche Infusionen die Patienten zu bekommen haben. Und diesbezüglich ist dieses Gehirn – zum Wohl der Patienten und mitunter zu meinem Verdruss – sehr erfinderisch. Der Ständer, an dem die Infusionsflaschen und Plastiksäcke hängen, gleicht vor allem in der Früh einem vollbehangenen Christbaum.

Medikamentengabe

Einmal Magenschutz, mehrmals ein Antibiotikum – das letzte um Mitternacht –, dann wieder ein Antimykotikum, dann auch noch reines Wasser zur Aufbesserung des Flüssigkeitshaushalts. So ist man eigentlich viele Stunden an die Infusionsleine gefesselt. Die dritte "Chemo" besteht gar aus einer Infusion, die 72 Stunden dauert.

Theoretisch kann man schlafen, doch wenn man sich bewegt, kann es sein, dass der Zufluss vom Gefäß in die Vene unterbrochen wird. Man kann, so man mobil ist, auch das Bett verlassen. Doch schon der Gang auf das WC wird mit einem solchen Gestell ein Problem, weil dann das Blut aus der Vene in die Leitung zurückfließen kann. Worauf man zur Behebung dieses Schadensfalles wieder die Schwester rufen muss.

Gehasste Infusion

Was ich am meisten hasste, war die Infusion von Kaliumchlorid. Erstens dauert sie drei bis vier Stunden. Und zweitens wird zu deren Verabreichung ein Infusomat benötigt. Dies ist ein im hässlichsten Grün, das ich kenne, gefärbelter, überaus tückischer Apparat, der dafür sorgen soll, dass die Substanz nur ganz langsam in die Venen gelangt. Wenn die gewünschte Portion verabreicht ist, beginnt er zu piepsen, dass es einem durch Mark und Bein geht. Doch er piepst eigentlich, wann es ihm Spaß macht. Ganz unkontrolliert. Die Schwestern, die ihn bedienten, waren genervt. Ich war wütend.

Der Grad meines Zornes, in den ich allein beim Anblick dieses hässlichen Grünlings geriet, blieb mir allerdings unerklärlich. Bis mir Professor Neumeister sagte, das Kaliumchlorid sei jener Bestandteil der in den US-Gefängnissen den Delinquenten verabreichten Todesspritze, der zum endgültigen Herzstillstand führt. Vielleicht hatte ich eine instinktive Aversion gegen diese Substanz, über deren therapeutischen Effekt die Damen und Herren, die dieses hämatologische Aquarium bevölkern, wohl Bescheid wissen werden. Dort werden auch die zahlreichen Untersuchungen festgelegt, denen man sich immer wieder zu unterziehen hat.

Immer wieder standen zwei Männer vom Grünen Kreuz im Zimmer und fragten, ob es hier einen Herrn ... gibt. Wenn sie dann stockten und nicht wussten, wie sie den Namen aussprechen sollen, dann wusste ich, dass nur ich gemeint sein konnte.

Wie ein Sarg

Die Magnetresonanzuntersuchungen empfand ich als besonders schlimm. Man wird in einen engen Plastiksarg gelegt und getröstet, dass man, wenn es unerträglich wird, nur in einen Gummiballon zu kneifen braucht, und die Qual hat ein Ende. Der Höllenlärm, der dann ausbricht, war für mich unerträglich. Ich kniff in den Ballon. Da näherte sich ein Arzt und sagte: "In zehn Minuten sind wir fertig." Dann ging es weiter, wie es begonnen hatte. Am qualvollsten sind die Beckenkammpunktionen.

Man liegt mit angezogenen Beinen auf einer Bahre, und ein Arzt macht sich an der freigelegten Hüfte zu schaffen. Vor mir hat dann schon eine Schwester Stellung bezogen, die in den Momenten des größten Schmerzes meine Hände hält und mich zu tiefem Atmen anhält. Diese Momente treten dann ein, wenn der Arzt nach einigen vorbereitenden, ebenfalls nicht sonderlich angenehmen Prozeduren endlich mit einer Hohlnadel in den Hüftknochen eingedrungen ist und das Knochenmark aus dem Beckenkamm saugt. Das ist der Höhepunkt der Qualen. Zwar wird dieser Eingriff unter örtlicher Betäubung durchgeführt. Doch ich fühlte mich jedes Mal völlig unbetäubt. Auch das eine Mal, als man mir zur Linderung der Schmerzen ein Morphiat injizierte.

Nachbarschaft

Vor allem litt ich aber nächtens unter den Geräuschen, die meine Nachbarn von sich gaben. Brigitte hatte mich zwar mit Ohropax ausgestattet, doch wie alle Betäubungsversuche bei den Beckenkammpunktionen meine Schmerzen nicht lindern konnten, so blieben auch diese lächerlichen Wattewutzelchen für mich ganz ohne Wirkung.

Der Erste, den ich wahrnahm, war ein Farbiger. Der hatte die wohltuende Eigenschaft, dass er die halbe Nacht den Fernseher laufen ließ, vor allem wenn ein Boxkampf oder ein Fußballmatch übertragen wurde. Da hatte ich die Chance, früher einzuschlafen als er und so der akustischen Folter seines Schnarchens zu entkommen.

Röcheln

Sein Nachfolger war ein Patient, der seit Monaten an einer Lungenentzündung litt. Er hustete unausgesetzt bei Tag und bei Nacht. Bisweilen wurde er mit Sauerstoff versorgt, was den Husten durch ein fauchendes und röchelndes Geräusch ersetzte. Und trotz oder gerade wegen dieses Hustens war er mir noch der erträglichste Nachbar. Denn sein Husten war unregelmäßig und seine Intensität abwechslungsreich. Ich fand nämlich heraus, dass es nicht die Lautstärke des Schnarchens ist, die mich quält, sondern seine vorhersehbare Regelmäßigkeit. Auch ein regelmäßiges ruhiges Atmen kann mich vor Wut außer Rand und Band bringen. Die mitfühlenden Schwestern verabreichten mir Schlafmittel, die ich, nachdem ich bemerkt hatte, wie wirkungslos sie blieben, gar nicht mehr schluckte. Eine versuchte mich sogar mittels einer Infusion einzuschläfern – alles vergeblich.

Gesprächspartner

Nur eine einzige Nacht teilte ich das Zimmer mit einem Herrn, den ich akzeptierte. Er war über 80, ehemaliger Banker und litt ebenfalls an einer – allerdings geräuschlosen – Lungenentzündung. Was uns von der ersten Stunde an verband, war seine Begeisterung für das Musiktheater. Er kannte alle Sängerinnen und Sänger der Wiener Staatsoper und auch der Salzburger Festspiele. Selbstverständlich war ihm auch das Grazer Opernensemble bis zu Ljuba Welitsch und Josef Janko geläufig. Vor allem bei den Werken von Richard Wagner war er bewundernswert sattelfest. Es war ein Vergnügen, mit ihm zu plaudern. Bis sein Blick, es war schon gegen zwei Uhr morgens, auf einen im Zimmer abgestellten Leibstuhl fiel. Ich erkannte gleich, dass dieser Leibstuhl ein Gegenstand seines Begehrens sein könnte, und wies ihn sehr eindringlich darauf hin, dass an diesem der Erleichterung dienenden Möbelstück kein zugehöriges Gefäß angebracht und es daher nicht benützbar sei.

Desinfektion

Offenbar bin ich doch einmal eingeschlafen, wenn auch zu höchst unpassender Zeit. Denn mein musischer Nachbar hat meine Warnung überhört oder in den Wind geschlagen. Als er nach dem Erwachen gewahrte, was er – in seiner zum Glück nur kleinen Not – angerichtet hatte, kannte seine schamvolle Erschütterung keine Grenzen. Wie er und ich noch nicht wussten, zu Recht. Denn am nächsten Tag stellte man einen so gefährlichen, hochinfektiösen Keim an ihm fest, dass er umgehend aus dem Spital entfernt werden musste. Worauf ich in meinem Bett aus dem Zimmer geschoben wurde, weil man dieses einer Stunden dauernden Desinfektion unterziehen musste.

"Katheter zupfen"

Man hatte mich vorübergehend in jenem Untersuchungszimmer deponiert, in dem ich am Beginn meines Aufenthaltes hatte nächtigen wollen. Und da ich die Zeit nicht ungenutzt vorübergehen lassen wollte, überredete ich Schwester Maria, an mir doch endlich die Entfernung des Katheters vorzunehmen, die jetzt nach über drei Monaten genehmigt wurde. Sie sagte etwas von "Katheter zupfen", sodass ich mir diesen Eingriff eigentlich eher schmerzlos vorstellte.

Wohl "zupfte" sie den Katheter, ich aber heulte vor Schmerz und klammerte mich an die samstägige Brigitte, die mich als Psychologin auch gleich lehrte, das für lange Zeit stillgelegte Organ nebst zugehörigem Schließmuskel auf Anhieb ordnungsgemäß in Betrieb zu nehmen.

Wanderschaft

Von da an setzte mein Kampf um die nächtliche Einsamkeit ein. Befreit vom Katheter fühlte ich mich wie ein Vogel, der mit unbehinderter Mobilität überall sein Nest bauen konnte. Und ich hatte für meine nächtliche Bleibe ausgerechnet den Tagraum auserkoren, der in der Nacht offenstand und unbenützt war. Meine wechselnden Zimmernachbarn staunten nicht schlecht, als ich nach der "ZiB 2" ein Wägelchen holte, auf dem die Schwestern tagsüber die Infusionsflaschen abstellten, meinen Polster und meine Decke auf dieses lagerte und in den Tagraum entschwand.

Obwohl ich nie beim Bundesheer war, entwickelte ich bald im Aufbreiten eines Leintuches eine gewisse Fertigkeit, sodass ich im Nu eine Sitzbank in ein passables Nachtlager verwandelte. Von da an schlief ich wie ein Schneekönig. Doch das Glück war begrenzt. Bei jeder Chemo sinken die Leukozyten, und wenn der Wert unter tausend war, wurde man, um Infektionen zu verhindern, isoliert. Das heißt, man durfte das Zimmer nicht verlassen, und wer es betrat, durfte dies nicht ohne Atemschutz und vorheriges Händewaschen tun.

Gesunkene Werte

Bange fragte ich jeden Tag, wie hoch die Leukozyten noch sind. Doch einmal musste Professor Neumeister feststellen, dass meine weißen Blutkörperchen unter den erlaubten Wert abgesunken waren. Er wusste mittlerweile wie alle um meine eskapistischen Tendenzen und sprach sehr vorsichtig von einer "begrenzten Isolation". Irgendwo sollte ich die Nacht über untergebracht werden, damit ich allein schlafen kann. Zunächst war das "Begleitzimmer", in dem ich ursprünglich hätte sterben sollen, im Gespräch. Doch diese Variante scheiterte am Einspruch der offenbar sehr mächtigen Stationsschwester. Schließlich sprach Professor Linkesch, der Leiter der Abteilung, ein Machtwort und erklärte das Zimmer 21 – natürlich kostenpflichtig – zum Einzelzimmer.

Woraus abzulesen ist, dass Professoren, Ärztinnen und Ärzte und vor allem die Schwestern nicht nur auf die Eigenheiten eines Sonderlings wie mich einzugehen bereit waren, sondern auf die Individualität eines jeden und einer jeden Einzelnen. So hatte diese Riesenstation einen gewissen familiären Charakter. Man braucht sich das nicht so vorzustellen, dass sich die Ärzte ans Krankenbett setzen und Schnurren erzählen. Dazu fehlt die Zeit. Es dürfte auch eine gewisse empathische Vorsicht herrschen, die vor allzu großer Zuwendung zum Patienten abhält. Denn die Sterblichkeit ist ja doch ziemlich hoch. Immer wieder kam es vor, dass man ein Bett vorüberschob, in dem eine mit einem Leintuch bedeckte, meist sehr schmächtige Gestalt lag.

Keinen Tag mehr auf der Station

Doch der mit unermüdlichem Einsatz ausgetragene Kampf der Besatzung gilt dem Erhalt des Lebens. Der währte bei mir bis zum Augenblick meiner Entlassung. 90 Millionen Einheiten einer Substanz, durch welche die Bildung von Stammzellen gefördert werden sollen, ließ mir Professor Neumeister noch in den letzten Stunden in den Bauch injizieren. Leider vergeblich. Ich empfand es als Glück. Andernfalls hätte ich am Ende noch einen Tag auf der Station bleiben müssen. Und so groß ist mein Verlangen begreiflicherweise ja auch wieder nicht. (Peter Vujica, DER STANDARD, ALBUM, 24./25.11.2007)