Empörung, Wut, Betroffenheit sind schlechte Ratgeber, wenn es darum geht, tragische Ereignisse in der Gesellschaft einigermaßen sachlich einzuordnen und vernünftige Schlüsse zu ziehen. Darin bestehen Kernproblem und Dilemma, welche der ORF uns Donnerstagabend mit seiner superoffensiven Veröffentlichung von zwei Misshandlungsfotos des Babys Luca auferlegt hat.

Schon der äußere Rahmen war ungewöhnlich: Der Beitrag samt Studiogespräch wurde zur besten Sendezeit als Spitzenmeldung dem Millionenpublikum hingeworfen. Er dauerte mit sechs Minuten ungewöhnlich lange. So etwas gibt es sonst nur bei weltbewegenden Ereignissen.

Ein bisschen dürfte die "ZiB"-Macher aber von Anfang an das schlechte Gewissen gedrückt haben. Sonst hätten sie nicht gleich explizit darauf hingewiesen, dass man sich erst nach langem Überlegen und Diskutieren entschlossen habe, die Fotos zu zeigen.

Stimmungsmache

Hat sich da das Wissen geregt, dass öffentlich-rechtliches Fernsehen nicht dazu da ist, in Boulevardzeitungsmanier für Stimmungsmache zu sorgen, sondern zuvörderst für eher nüchterne Information?

Der Informationsneuwert der Bilder war null. Sie haben lediglich bestätigt, was Ärzte in dem Fall längst diagnostiziert hatten, was seit Tagen bekannt und dokumentiert ist.

Man kann solche Fotos nur schwer anschauen, ohne entsetzt zu sein. Umso schwieriger ist es dann, die Sachverhalte ruhig zu besprechen, "damit sich das nie mehr wiederholt", dieses Grauen. Genau dieses selbstgesteckte Ziel haben sich die Nachrichtenmacher am Küniglberg selbst verbaut.

Folge: Wo immer man am Tag danach hinblickt bzw. -hört, in Internetforen, Leserbriefe, bei Diskussionen darüber in der Straßenbahn: Es dominiert die pure Emotion bis zum Hass. Die Leute schreien ihr Entsetzen nur so raus über "die Behörden, die kläglich versagt haben", über "die Politiker", ihren Zorn gegen "Menschen, die am besten keine Kinder hätten", wie das dann heißt. Und auch noch viel Ärgeres in Bezug auf den Umgang mit den mutmaßlichen Tätern. Wem hilft das?

Ruf nach Härte

Wie immer in solchen Fällen von schwerer Kriminalität ist der Ruf nach härteren Strafen nicht weit, insbesondere bei Rechtsparteien, die ihr Geschäft als puren Populismus betreiben. Und nicht zuletzt findet sich immer der eine oder andere tüchtige Anwalt, der sich auf diesem Boulevard nicht nur der Gefühle, sondern auch des großen Geschäfts, in Szene setzt.

Der Preis, den wir alle dafür zahlen, ist eher hoch.

Zum einen bleibt das Gefühl für Grundrechte wie den Schutz auf Privatsphäre allzu leicht auf der Strecke. So auch "die Chance, selbst zu bestimmen, was von seiner Geschichte man der Öffentlichkeit zeigen will oder nicht", wie das Juristen nennen. Dies gilt besonders für Kinder - und auch für Tote. Mancher Jurist geht so weit zu sagen, mit der Dokumentation des Leids werde das Kind nach dem Tod ein zweites Mal geschädigt.

Der andere kritische Aspekt ist, dass die Bilder einer Krankenakte entnommen wurden. Das aber sollte tabu sein. Warum soll es erlaubt sein, dass Behörden - konkret Mitarbeiter der Jugendwohlfahrt - Dokumente aus Krankenakten in die Hand bekommen? Ein von Ärzten bestätigtes Schreiben sollte reichen, damit im Fall von Misshandlungen Taten der Behörden folgen.

Kein Bilderverbot

Das alles kann nicht bedeuten, dass es absolute Bilderverbote geben muss. Es gibt schreckliche Fotos, die Medienmacher der Öffentlichkeit nicht vorenthalten dürfen, weil ihr Informationswert für die Gesellschaft weit höher einzustufen ist als die Bedenken, die gegen Veröffentlichung sprechen - wo das öffentliche Interesse gegenüber dem Schutz des Privaten überwiegt. Beispiel: Das vom Falter aufgedeckte Video über die (später leugnenden) Polizisten, die den Afrikaner Cheibani Wague im Wiener Stadtpark zu Tode drücken, ist so ein Beispiel. Oder die Folterungen Kriegsgefangener im Irak durch US-Soldaten. Wie so oft ist das aber letztlich auch eine Frage der Verantwortlichkeit, ablesbar an der Art, wie man etwas präsentiert. (Thomas Mayer, DER STANDARD Printausgabe, 24.11.2007)