Kurz vor dem Urteil in Kanadas grausigstem Serienmordprozess steht den zwölf Geschworenen eine schwierige Entscheidung bevor. Elf Monate lang mussten sich die fünf Frauen und sieben Männer die furchtbarsten Schilderungen von abgetrennten Köpfen und Händen, von Gliedmaßen in Kühlschränken und Eimern und von Knochen in der Erde anhören. In wenigen Tagen müssen sie über Schuld oder Schuldlosigkeit des 58 Jahre alten Schweinezüchters Robert Pickton aus Port Coquitlam bei Vancouver entscheiden.

Pickton ist in diesem Verfahren angeklagt, sechs Prostituierte vom Straßenstrich in Vancouver auf seiner Farm auf brutale Weise ermordet, ihre Leichen zersägt und teilweise an Schweine verfüttert zu haben. Der Mord an 20 weiteren Opfern soll in einem zweiten Prozess behandelt werden.

Pickton hat auf "unschuldig" plädiert. Adrian Brooks, sein Verteidiger, hatte zum Ende des Prozesses erklärt, die wichtigsten Zeugen der Anklage seien unglaubwürdig, da es sich um Kleinkriminelle, Prostituierte und Drogensüchtige handle.

Widersprüche So hatte eine von Picktons Bekannten ausgesagt, sie habe ihn auf seiner Farm beim Zerlegen einer an Haken aufgehängten Frauenleiche ertappt. Für die Aussage, sagte der Verteidiger, gebe es keine Beweise, die Zeugin habe sich in Widersprüche verwickelt. Picktons Schuld stehe nicht fest. "Die Beweislage sagt klar, dass es berechtigte Zweifel gibt", sagte Brooks.

Er versuchte den Verdacht auf andere Leute zu lenken, deren DNA ebenfalls auf der Farm gefunden worden sei. Dazu gehörten eine weitere Bekannte Picktons, die den Lippenstift einer der Ermordeten besaß. Ihre DNA sei auch auf dem Rosenkranz eines Opfers gefunden worden.

Als möglichen Verdächtigen nannte Brooks auch Picktons jüngeren Bruder David, dem ein Teil der Schweinefarm gehört. Der sei nicht einmal als Zeuge vorgeladen worden, kritisierte der Verteidiger. Auch seien die Leichen der Opfer anders zerlegt worden, als es Pickton jeweils mit Schweinen getan habe.

Als Pickton im Jahr 2002 verhaftet wurde, waren bis dahin mindestens fünfzig Prostituierte von Vancouvers Straßenstrich verschwunden. In der Untersuchungshaft hatte Pickton gegenüber einem als Mithäftling getarnten Agenten der Polizei mit den Fingern die Zahl 50 signalisiert und gesagt, er hätte gern eine runde Zahl "machen" wollen.

"Wie ein Papagei" Er sagte der Polizei, dass man einige Leichen auf seiner Farm finden werde, und dass man ihn erwischt habe, weil er nachlässig geworden sei. Doch der Verteidiger stellte Pickton als Menschen mit beschränkter Intelligenz dar, der einfach wie ein Papagei nachgeplappert habe, was ihm die Polizei in den Verhören einredete.

Staatsanwalt Michael Petrie bezeichnete alle diese Aussagen als "bizarre Theorie". Nur Pickton, niemand anders, könne die sechs Prostituierten umgebracht haben. Es sei nicht vorstellbar, dass jemand anders auf der Farm persönliche Wertgegenstände mehrerer Opfer in Picktons Wohnwagen gelegt habe und "Köpfe, Hände und Füße in Container gesteckt hat, direkt vor Herrn Picktons Nase". Gefundene Beweisstücke hätten zudem die Aussagen der wichtigsten Zeugin bestätigt.

Für die Angehörigen der ermordeten Frauen, von denen viele indianischer Herkunft sind, war der Prozess nur schwer zu ertragen. Während des Schlussplädoyers verließ die 15-jährige Tochter der ermordeten Marnie Frey tränenüberströmt den Gerichtssaal. Marnies Vater Rick Frey erklärte, jetzt, vor dem Urteil, sei er auf alles gefasst. Die Geschworenen werden sich voraussichtlich heute, Dienstag, zur Urteilsberatung zurückziehen. (Bernadette Calonego aus Vancouver/DER STANDARD – Printausgabe, 27.11.2007)