Kurt W. Rothschild

Morden ist "schlecht", nicht morden ist "gut". So einfach ist das. (Obwohl man bei Krieg und Todesstrafe sprachliche Konzessionen machen muss.) Im Fall von Defiziten liegen die Dinge nicht so einfach. Zwar reagiert man gefühlsmäßig auf "Defizit" eher mit "schlecht" und auf "Überschuss" eher mit "gut". Aber bei näherer Betrachtung lässt sich diese Beurteilung nicht aufrechterhalten. Defizite (und analog Überschüsse) können je nach Situation und Zielvorstellungen gut oder schlecht, wünschenswert oder unerwünscht sein.

Wichtigster Ausgangspunkt jeder Diskussion über staatliche Defizite ist die Einsicht, dass sich die Problematik staatlicher Defizite (das heißt die Einnahmen überschreitenden Ausgaben und die Entstehung von Schulden) grundlegend von der Problematik privater Defizite und Schulden unterscheidet.

Erstens gibt es einen Unterschied bezüglich der Rückzahlungsfähigkeit und den damit verbundenen Risiken für den Schuldner und den Gläubiger. Im privaten Bereich müssen nicht nur die laufenden Zinsen gezahlt werden, der Kredit selbst wird an einem bestimmten zukünftigen Termin fällig. Ist der Schuldner zu diesem Zeitpunkt zahlungsunfähig, so leidet sowohl er (Insolvenzverfahren etc.) wie auch der Gläubiger darunter.

Unsterblicher Staat

Im Falle staatlicher Kreditaufnahmen gibt es - zumindest in entwickelten Staaten und soweit es sich um Inlandskredite handelt - kein monetäres Rückzahlungsrisiko. (Real können durch Inflation oder Deflation Nachteile für den Gläubiger oder Schuldner entstehen.) Zum einen kann der Staat durch das Steuersystem die nötigen Zahlungsmittel besorgen, zum anderen muss er dank seiner Unsterblichkeit niemals den ganzen Schuldenstand abbauen, sondern kann sich immer wieder (auch zwecks Tilgung alter Kredite) neu verschulden. Ein Dauerbestand staatlicher Schulden hat übrigens auch einen positiven Aspekt. Er stellt dem Finanzmarkt risikofreie Wertpapiere zur Verfügung, welche dem Sparbedürfnis risikoscheuer Personen und Fonds entgegenkommen.

Der zweite entscheidende Unterschied zwischen staatlichen und privaten Defiziten besteht darin, dass die Ersteren aufgrund ihres Umfangs und ihrer Zielsetzung ein Instrument der Wirtschaftspolitik darstellen können. Soweit die im Anleiheweg aufgenommenen und eingesetzten Mittel nicht zu einem gleich hohen Ausfall privater Ausgaben führen, entsteht auf den Märkten eine zusätzliche nominelle Nachfrage.

Lenkungsfunktion

Je nach der ökonomischen Situation wird sich dies in vermehrter Produktion und Beschäftigung niederschlagen (besonders in Rezessionszeiten), oder in höherer Inflation (bei Vollbeschäftigung oder strukturellen Verzerrungen). Die Defizite können somit je nach Situation erwünschte oder unerwünschte Folgen haben. Entscheidend ist, dass sie wirtschaftspolitisch wirksam und einsetzbar sind und zwar durch ihre Zielrichtung, wie z. B. im Rahmen der Regionalpolitik.

Ein wichtiger genereller Unterschied kann zwischen produktiven und konsumptiven Defiziten gemacht werden. Produktive Defizite dienen der Schaffung von zukünftigen Produktivitäts- und Einkommenssteigerungen, wie Infrastrukturverbesserungen, Bildungs- und Forschungsausgaben, öffentliche Unternehmen etc. welche die künftige Steuerbasis des Staates vergrößern und so die Zinsen- und Tilgungszahlungen erleichtern.

Konsumptiven Defiziten oder Transfers fehlt diese Eigenschaft. Sie können der Erfüllung verschiedenster ökonomischer, sozialer und kultureller Projekte dienen, die - ohne spätere Einkommensquellen zu schaffen - als dringlich empfunden werden, aus konjunkturellen oder anderen Gründen aber nicht leicht aus den laufenden Staatseinnahmen gedeckt werden können. Für beide Defizit-Typen gilt, dass sie wirtschaftspolitische Lenkungs-funktionen besitzen.

Wie immer man zu dieser Frage stehen mag, eines ist sicher: Es gibt Grenzen für das Ausmaß der Defizite bzw. der Verschuldung. Im privaten Bereich kann man Defizite nur begrenzt zulassen und muss ihnen dann zwecks Schuldenrückzahlung Überschüsse folgen lassen. Der Staat kann einen Schuldenstand durch Refinanzierung unbegrenzt aufrechterhalten. Dauernde Defizite sind somit prinzipiell möglich. Sie führen allerdings zu einer ständigen Erhöhung der Staatsschuld. Soweit jedoch die Defizite im Verhältnis zum nominellen Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) relativ gering sind, nimmt zwar die absolute Höhe des Schuldenstandes etwas zu, aber die Schulden als Perzentsatz des wachsenden BIP werden gleich bleiben oder abnehmen. Und es ist dieser Anteilsatz des Schuldenstandes (dem die EU eine Zielgröße von 60 Prozent vorgibt), der in einer wachsenden Wirtschaft maßgebend ist. Denn in ihr wächst mit Produktion, Finanzmärkten, Staatsaufgaben etc. auch das "akzeptable" Volumen der Staatsschuld.

Negative Folgen

Die Belastung des Budgets, die sich dann alljährlich aus Zinsendienst und Refinanzierung ergibt, lässt der Regierung wenig Spielraum für andere wichtige Aufgaben, da der Besteuerung der Bevölkerung Grenzen gesetzt sind. Auch aus verteilungspolitischer Sicht hat ein hoher Schuldenstand negative Folgen, da die zur Zinsenzahlung eingehobenen Steuern alle Bürger betreffen, die Empfänger der Zahlungen (die Kreditgeber) aber überwiegend in den höheren Einkommensgruppen angesiedelt sind.

Wie sieht nun aus einer solchen Perspektive die gegenwärtige österreichische Situation aus? Insbesondere stellt sich die Frage, ob die gegenwärtige Zielsetzung, das Budgetdefizit in kürzester Zeit zu beseitigen, jene Priorität und Dringlichkeit verdient, mit der sie von der Regierung auf die Tagesordnung gesetzt wurde.

Auch wenn man von den Zielvorgaben der EU absieht, spricht gegenwärtig vieles dafür, mit der begonnenen Reduzierung der Defizite fortzufahren. Der Schuldenstand des Staates in Relation zum BIP hat ein Niveau erreicht, das die Bedienung der Staatsschuld zu einer nicht unwesentlichen Belastung des Budgets macht. Der gegenwärtige europäische Konjunkturaufschwung bietet eine gute Gelegenheit, durch Reduzierung der Defizite die relative Schuldenlast abzubauen. Aber sowohl aus historischer wie aus international vergleichender Sicht ist die gegenwärtige Situation keineswegs so, dass ein solcher Defizitabbau in Form eines Katastropheneinsatzes erfolgen muss.

Weder muss unbedingt ein vollkommen ausgeglichenes Budget erreicht werden, noch kommt es darauf an, den Abbau mit übertriebener Hast durchzuführen, die notwendige Anpassungen erschwert und den begonnenen Konjunkturaufschwung bremsen könnte. Insbesondere besteht kein Grund, über die sowieso schon restriktiven EU-Markierungen hinauszugehen. Man muss nicht päpstlicher sein als der Papst.

Das Ziel, in kürzester Zeit - bis 2002 oder 2003 - unbedingt ein ausgeglichenes Budget zu erreichen und dieses Ziel noch dazu zur höchsten wirtschaftspolitischen Priorität hinaufzustilisieren kann rein ökonomisch nicht begründet werden. Wohl kann es aber politisch "Sinn machen".

Rauchvorhang

Indem man eine hysterische Panik über das Defizit erzeugt und seine Beseitigung zur Causa prima macht (insbesondere bei Ausscheiden der "Sanktionen" aus dieser Rolle), werden die weitaus wichtigeren realwirtschaftlichen Fragen, wie und wo mehr gespart oder mehr ausgegeben werden soll, wie und wo Ausgaben und Einnahmen erhöht und gesenkt werden sollen, verdrängt. Defizitverringerung als solche wird zum alleinigen Ziel, Erreichung des Nulldefizits wird zum Erfolgskriterium. Hinter diesem Rauchvorhang lässt sich dann eine Politik manipulieren, bei der einschränkende Maßnahmen als Erfolg gelten, egal ob sie (wie Lehrer und Infrastruktur) Investitionen für die Zukunft betreffen oder nicht, bei der Sozialpolitik als Last definiert werden kann, bei der überstürzte Privatisierungen sinnvoll erscheinen. Gepaart mit dem Grundsatz, dass der Defizitabbau überwiegend oder ausschließlich ausgabenseitig zu erfolgen hat, erweist sich diese Schocktherapie als ein Programm für den schlanken Staat und als eine Absage an den Sozialstaat.

Wie schon Hamlet bemerkte: "Though this be madness, yet there is method in it."

Emer. Prof. Dr. Kurt W. Rothschild lehrte zwei Jahrzehnte Ökonomie an der Universität Linz und lebt in Wien.