Eine Pizzaschachtel war Ideengeber für die Möbel "Bent".

Foto: Hersteller

Mit dem Sessel "404" macht Stefan Diez nicht nur der deutschen Firma Thonet eine Freude.

Foto: Hersteller

Stefan Diez

Foto: Hersteller
Schon am zweiten Messetag war die Pizzaschachtel weg. Reinigungskräfte hielten das Ausstellungsstück für Abfall und räumten es ab. Für die Frankfurter Messe "The Design Annual" hatte Designer Stefan Diez seine Sonderschau "Déjà-vu" zusammengestellt, mit eigenen Entwürfen und Objekten, die ihn während des Entwurfsprozesses inspiriert hatten oder deren Prinzip zumindest mit seinen Produkten verwandt sind. Für "Déja-vu" hatte der Designer zwei weiße Regale einander gegenübergestellt, der Betrachter konnte mitten hindurchgehen und sich einmal dem Vorbild, dann wieder der Diez'schen Interpretation zuwenden. Auch die Pizzaschachtel gehörte hierher, denn wie sie erhält der Sessel "Bent" durch Faltungen seine Stabilität. Das Möbel entwickelte sich anders als ursprünglich geplant: Diez konzipierte es mit dem befreundeten Designer Christophe de la Fontaine, der heute in Mailand im Büro von Patricia Urquiola arbeitet. Ursprünglich sollte "Bent" aus einem leichten, beschichteten Material bestehen. Ein preiswertes Faltmöbel schwebte den Designern vor, das sich so leicht wie eine Pizzaschachtel zusammenbauen und nach Gebrauch flach verstauen lässt. Die Idee wurde auch umgehend mit dem "design report award" und dem Innovationspreis der Kölner Möbelmesse ausgezeichnet. Nicht nur Schönmacherei Inzwischen wuchs "Bent" zu einer Kollektion von pulverbeschichteten Aluminiummöbeln heran. Allesamt sind per Laser schnittgelocht und anschließend gebogen. Angeboten werden sie von der italienischen Firma Moroso.

Diez, in Freising bei München geboren, kann bereits auf ein beachtliches Werk verweisen, das von Möbeln über Besteck und Porzellan bis zu Reisetaschen, Küchenhelfern und Schmuck reicht. Höchstes Lob spendete der heute 75-jährige Dieter Rams, dessen Entwürfe als Braun-Designchef in den 1960er-Jahren weltweit Aufsehen erregten. Rams sieht Diez als würdigen "Nachfolger meiner eigenen Denkweise", als jemanden, der Design nicht nur als "Schönmacherei auffasst, sondern als einen ganzheitlichen Denkprozess". Überhaupt sei Diez weniger Designer als Gestaltingenieur, befand Rams kürzlich gegenüber der Zeitschrift monopol. Technisches Know-how und Entdeckerfreude kennzeichnen die Entwürfe des heute mit seiner Familie in München lebenden Designers.

Aktuellster Wurf: Zwei Stühle namens "404" für die deutsche Traditionsfirma Thonet. Die Idee der historischen Bugholzmöbel transferierte Diez in die Gegenwart. Sitz- und Rückenlehne sind aus Formholz gefertigt, Beine und Rückenholme aus Schichtholz. Weitere Materialien kommen nicht zum Einsatz. Zudem benötigen die Stühle weder Schrauben noch Dübel. Ansehen allein genügt nicht, man muss die Stühle ausprobieren und auf den Kopf stellen, um sie zu verstehen. Das komfortable Sitzgefühl durch die federnde Rückenlehne und der Knoten, zu dem die ausgestellten Beine unter der Sitzfläche zusammenlaufen, machen "404" wohl zu einem der innovativsten Stühle der Gegenwart.

Erweiterter Spielplatz

Stefan Diez ist aber keiner, der für Zielgruppen entwirft oder sich für Mainstream interessiert. "Beim Entwurf von Dingen", sagt er, "kann man legitimerweise von sich selbst ausgehen." Als Assistent von Richard Sapper an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart begann er seine Karriere. Später war er in München Assistent von Konstantin Grcic.

Bevor Diez das Design für sich entdeckte, machte er in Stuttgart eine Schreinerlehre. Anschließend begleitete er seinen indischen Freund Tarek Utturkar ins indische Poona. Dieser hat einen ähnlichen familiären Hintergrund wie Diez, sein kultureller Background ist freilich ein anderer. Beide sind in den Tischlereien ihrer Eltern aufgewachsen. "Die Werkstatt war immer schon der erweiterte Spielplatz", sagt Diez. "Man benutzt die Dinge, die man dort findet, sehr früh." Sonntag morgens experimentierte er so leise wie möglich mit den dort vorhandenen Gerätschaften.

Nach der Schreinerlehre in Stuttgart kaufte sein Freund Tarek in Deutschland Maschinen ein, die die beiden zerlegten und seetauglich verpackten. Weil Maschinen am besten von dem wieder zusammengebaut werden, der sie auseinandergenommen hat, reiste Stefan Diez kurzerhand mit nach Indien. Er ist begeistert von der Farbigkeit der Häuser, vom Licht, von den in den Stein gehauenen riesigen Tempelanlagen. Nach seiner Rückkehr plant er Architektur zu studieren, besucht Kurse an der Stuttgarter Universität. Doch seine Lehrherrin rät ihm, die Akademie der Bildenden Künste zu besuchen. "Ich hatte eine vage Vorstellung, was Architekten machen, von Industriedesign hatte ich damals keine Ahnung." Bei Besuchen an der Akademie sieht er Studenten, die mit Computerprogrammen dreidimensionale Objekte entwickelten. "Das fand ich viel toller als Architektur." Diez mag die Atmosphäre der Hochschule, die gut betreute Werkstätten bietet. Dabei ist Stefan Diez kein reiner Handwerker, der sich selbstgefällig in Basteleien vertieft. Stets gibt es bei seinen Entwürfen eine starke konzeptionelle Seite, eine tragende überzeugende Idee.

Tisch der Zukunft

Seit 2003 arbeitet Diez als selbstständiger Designer. Eines seiner ersten Projekte: die Besteckserie "Tema" für die Porzellanmarke Thomas. "Tema" ist etwas Neues in der Besteckwelt, wie aus einer vor uns liegenden, noch gänzlich unerforschten Epoche - in der man offensichtlich noch immer Messer und Gabel benutzen wird. Zugleich wirkt das Werkzeug für den gedeckten Tisch der Zukunft völlig vertraut. Sein spezieller Kniff: Diez hat sich am traditionellen Spaten-Besteck orientiert. Er spielt mit den Konventionen; der "Spaten", die untere Verbreiterung, die bislang in der Handfläche auflag, wandert den Griff entlang. Einmal landet er seitlich verrutscht unterhalb der Messerklinge, dann wieder am Übergang zwischen Griff und Löffelmulde. Jedenfalls stets an unerwarteter Stelle. Eigenartigerweise funktioniert das tadellos. "Tema" gibt es in allerlei Varianten, als Fisch-, Steak-, Asia- oder Snack-Besteck oder als Camperausrüstung aus Plastik.

Eine Idee durchzubuchstabieren, gleich eine ganze Kollektion oder ein System zu entwickeln ist typisch für Diez' Arbeit. Derzeit arbeitet er an einem Lichtschaltersystem für die Firma Merten. "In dieser Branche geht es um Millimeter", sagt er. "Sehr viele Dinge sind da festgelegt. Man muss viele Schritte zurückgehen und überdenken, um später vorwärtszukommen", sagt er.

Horizont erweitern

Wie die frühe Indien-Reise dient jedes neue Projekt dazu, den Horizont zu erweitern. "Jedes Projekt erscheint komplex. Sobald man es hinter sich hat, gehört es zum Repertoire und erweitert den eigenen Handlungsspielraum", beschreibt Stefan Diez seine Vorgehensweise. Eine Spezialisierung auf Möbel oder technische Objekte, auf nieder- oder hochkomplexe Gegenstände ist von Stefan Diez nicht zu erwarten. Dafür ist seine Neugier zu groß und zu stark die Abneigung, sich selbst zu zitieren. "Couch" für Elmar Flötotto entwickelt, zitiert Formen des bürgerlichen Chesterfield-Sofas. Materialität und Aufbau dementieren diese Zuordnung jedoch sofort wieder. Die Hülle aus Polyester oder Canvas wird mit kleinen Kügelchen und Schaumflocken gefüllt. Während des Transports nimmt "Couch" kaum Platz weg, erst am Bestimmungsort entfaltet sich das Möbel zu voller Größe.

"Projekte entwickeln sich immer aus einer Unterhaltung", sagt Stefan Diez und fast beiläufig fügt er hinzu: "Letztlich ist es wichtig, mit der Art, wie man es macht, konsequent zu bleiben." (Thomas Edelmann/Der Standard/rondo/30/11/2007)