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Das ist nicht etwa ein über- dimensionierter Schmetterlingsflügel, sondern die Fassade eines echten Gebäudes: Selfridge Kaufhaus in Birmingham von den Londoner Architekten "Future Systems", auch unten im Bild zu sehen.

Foto: APA/EPA/Lawrence Looi

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Passionierte Leserinnen und Leser kennen das Gefühl der Auflösung des Hier und Jetzt. Sie wissen, dass sie gewissermaßen zwischen Buchdeckel schlüpfen, in einem Roman verschwinden können.

Sie durchwandeln Räume, von denen andere geträumt haben, sie gehen als unsichtbare Beobachter durch Städte, Länder, Architekturen.

Das Beamen in eine andere Dimension, an einen anderen Ort - die Literatur hat es längst erfunden.

Und selbstverständlich baut das Lesen im Laufe der Zeit Landschaften und Topografien in den Köpfen, lässt Gebäude, Kontinente, neue Galaxien entstehen - und Gefahr droht diesen fantastischen, kostbaren Gebilden tatsächlich nur dann, wenn sich reale Bilder anmaßen, sie zu übertünchen. Stichwort Literaturverfilmung.

Fiktive Bauten und Städte

Der Architektur in der Literatur war im vergangenen Jahr in München eine Ausstellung gewidmet, die dem Thema entsprechend unweigerlich auch in Buchform erscheinen musste - zum Glück für all jene, die sie versäumt haben.

Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur (Verlag Pustet, € 49,-) hat eine längere Vorgeschichte. Das Projekt entstand an der Fakultät für Architektur der Technischen Universität München, wo die Studierenden dazu aufgefordert waren, jeweils ein literarisches Werk auf dessen Architekturgehalt zu analysieren und nach Möglichkeit diese Architekturen in Modellen und Plänen in die Dreidimensionalität der stofflichen Wirklichkeit zu transponieren.

Diese Seminare waren ein großer Erfolg und bei den Studentinnen und Studenten sehr beliebt.

Winfried Nerdinger, Herausgeber des Buches und Direktor des Architekturmuseums der TU-München, fasst in seinem Vorwort das Anliegen zusammen: "Dass poetische Räume wie zarte Schmetterlingsflügel beim Anfassen durch Architekten 'verletzt' werden und von ihrem Zauber verlieren, ist möglich, vielleicht sogar unvermeidlich. Aber die Materialisierung der poetischen Luftschlösser kann auch helfen, tiefer in die Räume und Welten der Dichter einzudringen, und sie kann beitragen, sich besser in den Labyrinthen fiktiver Bauten zu orientieren."

Sodann zitiert er gleich den Schmetterlingsliebhaber unter den Literaten, Vladimir Nabokov. Der schreibende Lepidopterologe hatte in seinen Legende gewordenen Literaturvorlesungen stets betont: "Der Leser muss wissen, wann und wo er seiner Vorstellungskraft Zügel anlegen muss. Das tut er, indem er versucht, die Welt deutlich zu erkennen, die der Autor vor ihm ausbreitet. Wir müssen Dinge sehen und hören, müssen uns bildlich die Räume vorstellen, in denen Gestalten eines Autors leben, ihre Kleidung und die Art, wie sie sich geben. Die Augenfarbe der Fanny Price in Mansfield Park und die Einrichtung ihres ungeheizten Zimmerchens sind wichtig."

Nabokov selbst besaß die Gnade, Räume und deren Atmosphären mit wenigen Worten auf das Plastischste zu skizzieren, und wenn sein Pnin, um nur ein Beispiel zu nennen, spätnachts und alleingelassen die blaugrüne Glasschüssel im Schaum des Abwaschwassers versenkt, dann sieht man nicht nur den matten Glanz seiner Glatze im Schein der Glühbirne über der Abwasch, sondern spürt im Dunkel rund um ihn die stumme Einsamkeit seines schäbigen Gastprofessorenmobiliars.

Die Architekturanalysten der TU-München schwärmten also quer über alle Kontinente der Literatur aus und nahmen Maß an virtuellen Gebäuden aller Art.

Sie bauten das Rosenhaus aus Adalbert Stifters Nachsommer im Modell nach, was dank der bedächtig-präzisen Beschreibung seines Autors nicht sonderlich schwierig war.

Sie rekonstruierten die Wohnung des Gregor Samsa, in der Franz Kafka ihn im Roman Die Verwandlung zum Käfer werden ließ. Sie entwickelten verschiedene Varianten des Wohnkegels, wie ihn sich Thomas Bernhard in Korrektur für die Schwester des Naturwissenschafters ausgedacht hatte. Sie nahmen sich - natürlich - der Unsichtbaren Städte Italo Calvinos und anderer Stadtvisionen teils altertümlichen Datums an.

Und da man, wenn man einmal begonnen hat, sich in eine Materie wirklich tiefgründig zu versenken, nur schwer Halt machen kann in diesem Sog, wurden auch reale, von Dichtern aufgegriffene und modifizierte Orte zu einem abenteuerlichen Teil der Reise. Die wohl bekannteste literarische Verortung stammt aus Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.

Angelika Corbineau-Hoffmann über das Städtchen Combray, das wie eine Vision der Erinnerung aus der Kindheitsvergangenheit aufersteht, wenn der Erzähler das Aroma seiner in den Tee getauchten Madeleine kostet: "Für Combray wie für Saint-Hilaire gilt: Sowohl der Gebäudekomplex der Stadt als auch die Kirche sind nicht erfunden, sondern real, aber doch so sehr Zeichen und Ausdruck des Werkes, in dem und für das sie stehen, dass die Grenzen zwischen Realem und Fiktivem verschwimmen. Die Architektur, eines der zentralen Themen in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, bringt zur Anschauung, ja macht geradezu greifbar, wie sehr die Gebäude der Literatur Gebilde aus Begriffen sind, Architekturen der Vorstellung."

Wie manche Autoren fiktive Architekturen tatsächlich aufgezeichnet oder den Aufbau ihrer Romane zu Papier gebracht haben, wird in einem eigenen, gut bebilderten Kapitel behandelt.

Denn dass Heimito von Doderer seine kompliziert konstruierten Werke auf dem Reißbrett in eine schlüssige Geometrie zu bringen pflegte, dürfte bekannt sein. Doch wer hatte zum einen bereits das Vergnügen, diese tatsächlich im Faksimile betrachten zu dürfen - und wer wusste zum anderen, dass Thomas Mann das Haus der Buddenbrooks in Grundrissen aufgezeichnet hat?

Auch von Theodor Fontane gibt es eigenhändig gezeichnete Pläne, zum Beispiel vom Hof Hradscheks in Unterm Birnbaum, und William Faulkner hat eine detaillierte Karte von Yoknapatawpha County, dem fiktiven Schauplatz vieler seiner Romane und Kurzgeschichten in schwarzer und roter Tinte auf braunes Papier gepinselt.

Franz Kafka meinte: "Manches Buch wirkt wie ein Schlüssel zu fremden Sälen des eigenen Schlosses." Die erforscht und erobert man am besten ganz allein. Deshalb ist es oft mit Gefahren verbunden, diesen Schlüssel anderen zu überlassen und sich beispielsweise platte Literaturverfilmungen persönlich besonders geschätzter Werke anzuschauen.

Abrissbirne Filmprojektion

Denn die "echten" Bilder legen sich unweigerlich über die fantastischen Gebilde der Imagination und überlagern sie auf ewig.

Das Buch Architektur wie sie im Buche steht wiegt 568 Seiten schwer und erhebt dennoch keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Science- Fiction beispielsweise blieb fast völlig ausgeklammert. Aber egal: Die fantastischen Welten eines Philip K. Dick, der Earthsea-Kontinent der Ursula K. Le Guin, die genial beschriebene Architektur der Raumstationen des Frederik Pohl liegen geduldig zwischen den Buchdeckeln. Öffnen. Abtauchen. Durch Literaturarchitektur wandeln. Wunderbar. (Ute Woltron /DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.12.2007)