"Wonder Beirut" – Postkarte eines "pyromanischen Fotografen", gestaltet von Joana Hadjithomas und Khalil Joreige, die kürzlich ein Roadmovie mit Catherine Deneuve und Rabih Mroueh gedreht haben.

Foto: Hadjithomas/ Joreige
Der Radfahrer überholte uns ziemlich genau beim militärischen Checkpoint, oben am Pass, wo der Verkehr, der sich auf der kehrenreichen Bergstraße von Beirut hinüber ins Bekaa-Tal durch atemberaubende Brems- und Überholmanöver auszeichnet, kurz ins Stocken gerät.

Ein Radfahrer: Vorbei an den unter Plastikplanen auf Panzern hockenden Soldaten, und im Zickzack zwischen den durchgewunkenen Autos schlängelte er sich durch, um sich dann, wie zur Belohnung für die anstrengende Kletteretappe in eine atemberaubende Talfahrt zu stürzen. Auffällig sein für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich sportives Outfit: Ein libanesischer Sportler, der sich auf die Tour de France vorbereitet?

Endgültig kippte das "schiefe" Bild, als der Fahrer – wir passierten gerade eine zerbombte Autobahnbrücke – meinte: "He‘s got no legs." Tatsächlich: Zwei Unterschenkel-Prothesen hakten sich in die Pedale. Ein Blick zurück noch: harter Kontrast zu den Tempelruinen in Baalbeck, die wir an diesem Tag besichtigten, zum Mittelstreifen der Straße dorthin, der über mehrere Kilometer hinweg mit Sprüchen wie "Israel wird immer unser Feind sein" "geschmückt" war, oder, am Abend: Einer Performance des japanischen Tänzers Hiroaki Umeda, der im Al Madina Theater in Beirut sein Debüt in der arabischen Welt gab.

"Ein Radfahrer ohne Unterschenkel? Ein starkes Bild. Sie wollen es in Ihrer Reportage verwenden? Passen Sie auf, dass es nicht zu sehr für‘s Ganze steht." Frie Leysen, die international renommierte belgische Kuratorin, wusste, wovon sie sprach:

Vor gut neun Monaten hatte sie die künstlerische Leitung des Festivals Meeting Points übernommen, einer Initiative des "Young Arab Theatre Fund": In neun Städten im arabischen Raum – Alexandria, Amman, Beirut, Kairo, Damaskus, Minia, Rabat, Ramalla, Tunis – sollten Performances, Ausstellungen, Filmvorführungen den Austausch zeitgenössischer arabischer Kunst fördern, und die Begegnung lokaler Künstler und Intellektueller mit internationalen Gästen – von Anne Teresa de Keersmaeker bis Rimini Protokoll – ermöglichen: Ein mit rund 600.000 Euro drastisch unterdotiertes, durchaus strittiges Unterfangen.

Wie will man etwa in Syrien, wo die staatliche Hegemonie sich bestenfalls in Feierstunden für regionale Superstars gefällt, mit einem szenischen Dialog zwischen einer iranischen Mutter und ihrer Tochter von Amir Reza Kooheztani reüssieren? Knapp 30 Leute verirrten sich in einen Spielraum der neugebauten Oper in Damaskus (in der es übrigens aus budgetären Gründen noch nie zu einer Opernauführung kam).

Oder: Was machen libanesische Künstler wie Rabih Mroueh und Lina Saneh, wenn sie in Tunis mit einer avancierten Performance über Bürgerkriegs-"Märtyrer" (How Nancy Wished that Everything Was an April Fool‘s Joke) bestenfalls auf lauthals artikuliertes Desinteresse treffen? Mroueh: "Da fragt man sich schon, ob das noble Unterfangen, Kulturen zusammenzuführen, nicht letztlich eine etwas bemühte Utopie ist.

"Rock‘n‘Roll"!

Unterschiedlich motivierte Veranstalter in den einzelnen Städten, technische Probleme, die höchst unterschiedliche Qualität der einzelnen Beiträge: Frie Leysen sieht das Unternehmen Meeting Points als "Rock‘n‘Roll", "mitunter schmerzvoll", "als würden vorerst nur Worte formuliert, wo irgendwann Sätze entstehen sollten". "Aber es ist schon ungewöhnlich, dass jemand wie ich monatelang in diesen Ländern recherchieren kann, und es ist einmal kein Diplomat oder Wirtschaftstreibender, der sich da umsieht."

Beirut war für einen solchen Zugang ein durchaus fruchtbarer Boden. Zum einen gibt es rund um Intellektuelle wie die Kunsttheoretikerin Christine Thomé, den Filmemacher Akram Zaatari oder den Architekturtheoretiker Tony Chakar eine überaus vitale Streitkultur. Zum anderen verlieh in diesen Novemberwochen die Anspannung rund um die libanesische Präsidentschaftswahl zusätzlich Brisanz. Christine Thomé: "Wir waren hier wirklich stolz, dass zum Beispiel Monkey Trial, eine Aufführung der belgischen Compagnie tg STAN möglich wurde – was da über amerikanische Bibelfundamentalisten und ihre Ablehnung von Darwins Evolutionslehre verhandelt wurde, müsste man, wie manche Besucher meinten, auf die hiesigen Verhältnisse umlegen. Viel zu lange wurde der Islam nicht als religiöses, sondern als politisches System thematisiert."

Während also zunehmend mehr Soldaten und Straßensperren das nächtliche und immer noch von einstigen Kämpfen gezeichnete Stadtszenario prägten, die Hisbollah in einem Zeltlager in Downtown-Beirut der Wahl entgegenfieberte und digitale Anzeigen neben Plakaten des am 14. Februar 2005 ermordeten Premiers Rafik al-Hariri verkündeten, dass seit dem Attentat über 1000 Tage ergangen seien, er aber immer noch präsenter scheint als so mancher gegenwärtig aktive Politiker – währenddessen wurde in und rund um einige Theater und Galerien unverdrossen Kunst produziert und (auch als Haltungsfrage) diskutiert.

Shawki Youssef etwa projizierte im Rahmen der interaktiven Installation (Skin Side) Konterfeis auf Besucher und stellte Fragen wie: "Ist es Ihnen angenehmer, das Gesicht eines Hisbollah-Führers auf dem Ihren zu haben, oder können Sie besser mit Jennifer Lopez leben?" Dem Journalisten, der das zunehmend erstaunt über sich ergehen ließ, war beides gleich beklemmend. Viele Künstler in Beirut arbeiten sich ab an derlei medialen Bildern, nicht zuletzt, weil nicht wenige von ihnen, bevorzugt die Film- und Videomacher im Brotberuf für Fernsehstationen arbeiten.

Roy Samaha etwa, der mit einer Videoperformance die Frage How to be A Good Citizen stellte – er ist auch freier Journalist und gestaltet Berichte für europäische TV-Stationen, und konnte so beim Festival immer wieder sehr aktuell das Neueste zur Lage referieren. Als etwa in einer palästinensischen Siedlung ein weiterer politischer Streit zwei Tote gefordert hatte, nannte er das "kleine Familienprobleme". Kleine Probleme? "Na, da solltet ihr erst mal die großen Probleme kennen lernen!"

"Kleine Probleme"

Schwarzer Witz, Galgenhumor. Rami Sabbagh hat mit dem Video 2mg of Roten Blood on Pure White Snow das besetzte, umkämpfte Beirut der 80er-Jahre als delirierenden Alptraum neu beschworen. Wenn er sich an seine Kindheit im Bürgerkrieg erinnert, kann er nur feststellen, dass er bewaffnete Rambos "einfach super" fand.

"Wahrscheinlich hat meinereiner so den Horror schlicht aus- und weggeblendet." Für private, meist von Politikern finanzierte TV-Sender will er nicht mehr arbeiten, "auch wenn es die einzige Möglichkeit darstellt, wirklich Geld zu verdienen. Mich hat es irgendwann nur noch deprimiert." Jetzt arbeitet Sabbagh in einem DVD-Verleih. Die aktuellen Filme von Gus van Sant oder Michael Haneke sieht er sich mit Freunden und Kollegen in kleinen Cineclubs an.

Rabih Mroueh – ein paar Jahre war er beim Hariri-Sender Future TV mit einem satirischen Cartoon ein beliebter Hauptabendstar: "Dabei war ich Kommunist. Aber selbst wenn ich Hariri auf die Schaufel nahm: Nie gab es Interventionen. Wahrscheinlich haben die meine Sendung nie angesehen." Als Performance-Künstler hat Mroueh (der nächstes Jahr auch wieder bei den Wiener Festwochen auftreten wird) die Zensur jahrelang umgangen, indem er Privatvorführungen bei freiem Eintritt produzierte. "Tja, und jetzt habe ich eine Hauptrolle in einem Film, an der Seite von Catherine Deneuve."

Joana Hadjithomas und Khalil Joreige haben dieses kleine Roadmovie inszeniert, für das sich Deneuve sechs Tage zur Verfügung stellte. Mroueh: "Ich zeige ihr da unser Land. Besonders unvergesslich ist mir der erste Tag, an dem wir zum Dorf meiner Kindheit, nahe der israelischen Grenze fahren. Und natürlich wurde das Auto, in dem wir da sitzen, von einem anderen gezogen, damit wir uns auf unsere Dialoge konzentrieren. Und ich? Ich machte immer wieder den Fehler, dass ich, wenn ich im Gespräch zu Deneuve hinüber blickte, auf das ,Lenken‘ vergaß."

Auch das: Eine Fahrt. Ein, wie Frie Leysen sagen würde, "starkes Bild". "Für's Ganze stehen" kann es alleine aber wohl auch nicht. Und so montiert man weiter am Kopffilm über den "meeting point" Beirut. (Claus Philipp /DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.12.2007)