Arno Geiger: "In Wien sagt man gern und meint es her-ablassend: Was weiß ein Fremder ... Ich selbst, als einer mit unspektakulär ländlicher Vergangenheit, zur Bescheidenheit erzogen, zur vom Katholizismus inspirierten mangelnden Selbstachtung, ich dachte mir: Was weiß ein Fremder? Bestimmt mehr als ich."

Foto: STANDARD/ Heribert Corn
Ich lebte mein Leben über das Leben der Vormieterinnen hin als eine Art Palimpsest.


Gestern war Übergabe. Ich gab dem Hausbesitzer die Schlüssel zurück. Da sind sie jetzt, all die Erinnerungen an die frühen Jahre, als ich mit von Dorfluft gesättigten Nasenflügeln und feuerrot gefärbten Haaren nach Wien kam, in eine dreißig Quadratmeter große Wohnung, Zimmer und Küche im 5. Gemeindebezirk, Klo am Gang, 900 Schilling inklusive Betriebskosten.

Ich sah heute einen Plan von Wien. Einen Augenblick erschien es mir unverständlich, dass man eine so große Stadt aufgebaut hat, während du doch nur ein Zimmer brauchst.

Orte bedeuten nichts.

Meine Eltern hatten 70.000 Schilling an Ablöse bezahlt für nach dem Gesetz abgewohntes Inventar. Angesichts der extrem niedrigen Miete schien diese Investition vertretbar. Es herrschte Wohnungsnot, es war eine Zeit der Spekulanten und Hausbesetzer. In den Ecken saß der Schimmel. An den Fensterbrettern blätterte die Farbe ab, darunter war das Holz von Feuchtigkeit schwarz. Wenn ich laut Musik hörte, bröckelte der Verputz von den Wänden.

Dazu die Schränke und Kommoden aus dunkelbraun furnierten Spanplatten – voller Schatten vergangenen Lebens. Die Nachbarin, Frau K., erzählte, dass in den 60er-Jahren eine Familie mit drei Kindern in dieser Wohnung gelebt habe. Die Wiege mit dem Neugeborenen zuoberst auf dem Schrank, mittels einer Schnur wurde das Kind gewiegt.

Die Füchse haben ihren Bau, dem Häftling gibt man eine Pritsche, das Messer nächtigt in der Scheide.

Orte bedeuten nichts.

Obwohl es um meine äußere Weltlage nicht allzu gut stand, hätte ich mir die Wohnung wenigstens teilweise neu einrichten können. Doch zu Ikea ging ich nur, um mir Bleistifte zu holen, die gab es dort gratis. Meine Eltern hatten für das Inventar der Wohnung – wie schon gesagt – ein kleines Vermögen gezahlt, und so abgelebt und glanzlos diese Dinge waren, sie hatten ihren Preis gehabt. Ich war bereit, ihnen den entsprechenden Wert zuzugestehen. Das hing mit meiner Erziehung zusammen, mit irgendetwas im Innenfutter meines dörflichen Charakters.

So lag ich dann auf dem knarrenden Bett. Auf dem Schreibtisch Bücher und Papier vor einem klobigen Computer. Aus dem Kassettenrecorder tönte die zurückgelassene Musik einer der Vormieterinnen: Joni Mitchell, Leonard Cohen und eine mir unbekannte Band, über die weder damals noch heute etwas zu recherchieren war, The Rebels of Liang Shan Po. Eins allerdings schien klar, die Band hatte mit Kanada zu tun, wie so vieles. An der Wand ein zum Poster aufgeblasenes Foto mit einer laufenden jungen Frau darauf. Unten beschriftet: Ich am Strand in der Nähe von Vancouver. Die um teures Geld abgelösten Schränke waren nicht nur abgenutzt, sie waren auch vollgeräumt mit Hinterlassenschaft, quasi als Gratiszulage. Lauter Frauenzeug. Neben den schon erwähnten Musikkassetten gab es Urlaubsfotos, massenhaft Dias, indianisches Briefpapier, mit Yin-und-Yang-Motiven bedruckte Tücher, Kleider aller Art bis hin zur Unterwäsche, intensiv riechende Toilettenartikel, Medikamente, einige Postkarten aus der Serie Zum Glück gibt’s Österreich.

Die alten Bezüge waren weich

Und dann diese erstaunlichen Gewohnheiten, auf die man schließen konnte, wenn man die Flecken im Teppich betrachtete. Im harten Kontrast dazu ein gewebtes Bild über dem Bett, kaum vorstellbar in seinem Kitsch. Das Bild zeigte eine Kutsche, gezogen von zwei Pferden, einem Rappen und einem Schimmel, und auf der Kutsche ein in Rokokogewänder gekleidetes Liebespaar. Der junge Mann schwenkte seinen breitkrempigen Hut.

Diesen erhabenen Ausdruck romantischen Geschmacks ließ ich ebenso unangetastet wie die fremde Unterwäsche. Sie blieb in einem der Schrankfächer für den Fall, dass die Vormieterinnen am Tag des Jüngsten Gerichts kommen und ihre Habseligkeiten zurückfordern würden.

Tatsächlich klopfte es während der ersten Woche an der Tür. Eine junge Frau, die hier gewohnt hatte, fragte nach ihrer Bettwäsche. Ich zog mein Bett ab, gab heraus, wonach verlangt worden war. Anschließend ging ich auf die nahegelegene Mariahilfer Straße und beschaffte Ersatz. Ich erinnere mich, ich empfand die neue Bettwäsche als argen Rückschlag. Die alten Bezüge waren weich gewesen, die neuen hingegen hart und übelriechend; wie sollte es anders sein, die von meinen Eltern abgelöste Waschmaschine funktionierte nicht.

Dichterisch wohnet der Mensch, heißt es bei Hölderlin.

Ich selbst? Ich war hier nicht eingezogen, sondern hatte mich hier vielmehr eingefügt, dichterisch. Ich lebte mein Leben über das Leben der Vormieterinnen hin als eine Art Palimpsest. Ich machte mir nicht die Mühe, eine zu mir als Person passende Umgebung zu schaffen und etwaigen Besuchern durch diese Anordnung eine Vorstellung davon zu ermöglichen, wer ich war. Kann sein, das lag daran, dass es mir an einem eigenen, ausgeprägten Selbst noch fehlte. Kann sein, dass ich mich in einem fremden Element wohler fühlte als im eigenen (ich war jung). Kann sein, ich empfand etwas Ähnliches wie als Kind, wenn ich mich, allein zu Hause, in die Zimmer meiner älteren Geschwister schlich und deren Schubladen herauszog in der Hoffnung, etwas über diese fremden Menschen in Erfahrung zu bringen. Vermutlich hatte ich schon damals eine Ahnung, wie wenig einer vom andern weiß.

Und gleichzeitig dieses Gefühl, auf dem Bett der älteren Schwester zu liegen mit ihrem Bravo in der Hand. Die Art, wie ich mich damals fühlte, ist noch nicht ganz verschwunden.

Auch meine frühen Bücher, an denen ich Anfang der Neunzigerjahre schrieb, Kleine Schule des Karussellfahrens und Irrlichterloh waren Projektionen auf das, was ich nicht war, aber hätte sein wollen. Ich war getrieben von der Sehnsucht, nicht ausgerechnet ich zu sein. In Wien sagt man gern und meint es herablassend: Was weiß ein Fremder ... Ich selbst, als einer mit unspektakulär ländlicher Vergangenheit, zur Bescheidenheit erzogen, zur vom Katholizismus inspirierten mangelnden Selbstachtung, ich dachte mir: Was weiß ein Fremder? Bestimmt mehr als ich.

Die stille Anwesenheit meiner Vormieterinnen wurde inzwischen zu etwas Alltäglichem. Das war im Herbst und Winter 1990/1991.

In der Tat: Orte bedeuten nichts, sie sind ein beschränktes Konzept.

Deshalb besagt es auch wenig, dass ich mich damals zum avancierten Stubenhocker entwickelte, zum wahren Talent auf diesem Gebiet: Ich saß zu Hause, wann immer es das Studium und meine Freundin zuließen, las und schrieb. Mir war klar, die bessere Zukunft, wie ich sie mir vorstellte, würde ihren Ausgangspunkt – wenn überhaupt – auf dem Papier nehmen. Meine Zukunft würde ihren Ausgangspunkt nicht auf der Universität oder auf der Straße oder in einem Kaffeehaus nehmen. Ich würde mir den Boden unter den Füßen erschreiben.

Pläne für die Zukunft waren Pläne für weitere Bücher.

Alles war einfach wie Radfahren

Ich arbeitete mit strenger Selbstbeherrschung, leckte konzentriert an der Spitze meiner kurzen Bleistifte. Allmählich verdichteten sich unter gewissen Akkumulationsprozessen die zwei schon erwähnten Romane. Sparsamkeit und Ökonomie meines Schreibens standen dabei in indirekter Proportion zur Sparsamkeit meiner äußeren Verhältnisse.

Manieriert und virtuos würde die Kritik meinen Stil Jahre später nennen.

Mein Leben war so einfach wie Papier. Und ebenso farblos – jedenfalls in den Augen der Umstehenden. Von außen betrachtet litt mein Leben an einer gewissen Leere, an einem beängstigenden Mangel an Inhalt. Es war angefüllt mit Buchstaben. Es war – nicht zuletzt und bedauerlicherweise – ein heillos verlorener Posten, wenn es darum ging, die Bewunderung von Mädchen zu gewinnen.

Wir richten uns immer wieder auf das Glück ein. Aber es sitzt nicht gerne auf unseren Sesseln.

Alles war einfach wie Tisch und Stuhl, wie das Gras auf der Wiese, wie die Tauben auf dem Dach. Ich war sieben Jahre von meiner ersten Veröffentlichung entfernt. Sechs Jahre. Fünf Jahre. Vier Jahre. Heimat war alles das gewesen, was ich als Kind mit dem Fahrrad erreichen konnte. Heimat war die enorme Geschwindigkeit gewesen, die ich auf meinem Fahrrad aus eigener Kraft erzeugt hatte.

Alles war einfach wie Radfahren.

Autor sein heißt, selbst-tätig sein.

Das knarrende Bett hatte ich rausgeworfen und durch zwei auf dem Fußboden ausgelegte Matratzen ersetzt. Auch die beiden Kutschpferde galoppierten nicht mehr über meinem schlechten Schlaf, dort hing jetzt eines der Tücher mit Yin-und-Yang-Motiv (ich schlief nicht besser). Und in Arbeitspausen hörte ich weiterhin gelegentlich The Rebels of Liang Shan Po. Dann saß ich wieder mit gesenktem Kopf am Schreibtisch. Man könnte sagen: Ich richtete mich ein im Denken (in dem, was ich dachte) und in der Sprache (in dem, was ich schrieb) wie andere sich in ihren Möbeln einrichten. Trotz oder wegen meiner einsilbigen Herkunft hatte ich mir das Denken und die Sprache erwählt als Ort, an dem ich Geborgenheit und Gewissheit erfuhr. Sätze wie, Wenn meine Träume auch ärmlich sind, sie sind das, was ich habe, ersetzten mir die schwarzlederne Couch.

Das Versprechen auf eine Zukunft als Schriftsteller war die einzig wirkungsvolle Salbe gegen das von der Gegenwart verursachte existenzielle Jucken, das mit den Jahren empfindlich zunahm.

Ich erinnere mich an meine Jugend und das Gefühl, das nie wiederkehren wird – das Gefühl, ich könnte in alle Ewigkeit aushalten, könnte das Meer, die Erde und alle Menschen überdauern; das trügerische Gefühl, das uns in Freuden, in Gefahren, in die Liebe lockt, in eitle Unternehmungen – in den Tod.

Im Frühling 1993 hatte ich mein Studium beendet und die Hand mit dem väterlichen Geld sich von mir zurückgezogen. Von da an war ich auch ökonomisch auf mich alleingestellt, hielt die unsichere Herrschaft über mein Dasein mit Bescheidenheit und Erfindungsgabe aufrecht als mein eigener Herr und sonst Herr über nichts. Ausnahme: Zimmer und Küche im 5. Wiener Gemeindebezirk, Klo am Gang. Ausnahme: Ein sich zusehends vergrößernder Sprachschatz. Ich fuhr fort zu schreiben, mit erheblicher Ausdauer und Leidenschaft, ich überarbeitete, was ich geschrieben hatte, schrieb Neues, ein schier endloses Arbeiten und tägliches Bemühen, meine mir vorschwebende Begabung zur Entfaltung zu bringen.

Vorerst blühte nur der Misserfolg.

Auf der Basis dieses Misserfolgs arbeitete ich weiter, teils weil ich damals, was sich von selbst versteht, jünger war als jetzt und nur unzureichend ahnte, dass mit echtem Scheitern nicht zu spaßen ist, teils weil ich offenbar eine gewisse Begabung besaß für die Kunst des existenziellen "presque rien". Vor allem aber, weil ich trotz all der Mühe, die mich das Schreiben kostete, spürte, warum Schriftsteller stolz sind auf das, was sie tun: die Unbewohnbarkeit bewohnbar machen.

Der Mensch wird in der Fremde geboren, leben heißt, die Heimat suchen, und denken heißt leben. (Arno Geiger /ALBUM /DER STANDARD, Printausgabe, 1./2.12.2007)

Die im Text kursiv gesetzten Zitate sind von Franz Kafka, Viktor Sklovskij, Joseph Conrad, Günter Eich und Ludwig Börne.