Es ist ein Gemeinplatz, dass Österreich II auch ein gestörtes Verhältnis zu seiner nicht nationalsozialistischen Vergangenheit hat. Um den Hypotheken der Ersten Republik zu entgehen, hat es stereotyp immer wieder dieselben Redemittel bemüht. Da waren die Gründungsmythen von Neutralität und Sozialpartnerschaft, dazu der patriotische Rausch der lang entbehrten "Identität". Dann eine mitunter picksüße k. (u.) k. Nostalgie, ein auratisch beschworenes besseres Vorgestern, multikulti, happy und bunt: zugkräftige trademark für den wirtschaftlichen Verkehr mit den "guten" Fremden.

Schwarz-gelber Zauber

Dieser Wiederholungszwang hat lange Zeit die Lebenslüge des neuen Staates nach 1945 gestützt, das erste "Opfer" Hitlers gewesen zu sein. 1938ff. bleibt jedoch der österreichischen Geschichte eingebrannt, unauslöschlich, egal ob es um NS-Beutekunst, Opferentschädigung oder Denkmalbauten geht.

Der braune Revenant ist hartnäckig, und der schwarz-gelbe Abwehrzauber will nicht so recht wirken - jene Illusion, die Alexander Lernet-Holenia, der Herrenreiter einer konservativ-österreichischen Kultur, dieser im November 1945 als Parole mitgab: "In der Tat brauchen wir nur dort fortzusetzen, wo uns die Träume eines Irren unterbrochen haben, in der Tat brauchen wir nicht voraus-, sondern nur zurückzublicken."

So ließ denn auch jener "Habsburgische Mythos", den der italienische Germanist Claudio Magris 1963 mit Heftklammern an der österreichischen Literatur festgemacht hat, bis in die 90er-Jahre hinein (umsonst) die Utopien der "Mitteleuropa"-Schwärmer warmlaufen - trotz späterer Einwände des Literaturwissenschaftlers. Es wurde modisch bis opportun, die heimischen Autoren von Franz Grillparzer über Joseph Roth bis Ingeborg Bachmann zu Kronzeugen eines 1918 verlorenen Miteinanders aufzurufen - ungeachtet der Tatsache, dass es sich hier um eine Mythe handelt, ein gedankliches Konstrukt also.

Von der Nostalgie profitiert haben indes weniger die ehemaligen "Völker" der Monarchie, sondern eher Meinl, Kaindl & Co., die den "Osten" auf ihre Weise zurückzugewinnen suchten, bis sie meist den Löffel an andere europäische Konsortien abgeben mussten.

Die Frage wurde selten gestellt, wer sich denn da eigentlich in Zentraleuropa nach einer "besseren" imperialen Vergangenheit sehnt(e): Waren es auch die relevanten Stimmen der so genannten "Nachfolgestaaten" oder nur jene alten Eliten, die sich einfach in Zeiten zurückwünschten, als sie noch mit Habsburg die Chefs waren?

So faszinierend dieses Staatsgebilde auch gewesen sein mag: Aber waren die alte Autorität und ihr jäher Verlust im Verbund mit mangelhafter gesellschaftlicher Modernisierung nicht auch der Boden für diverse Nationalismen und Faschismen auf mitteleuropäischem Boden?

In einem richtungsweisenden Essayband mit dem Titel Ins unentdeckte Österreich hat Karl-Markus Gauß 1998 jedes "Habsburg-Recycling" abgetan. Bedauernswert wäre lediglich das utopische Potenzial, das mit dem Untergang der Monarchie verloren gegangen sei, nicht aber das Ende ihrer zentrifugalen politischen und sozialen Realität: "Keinesfalls, weil sie übernational, sondern weil sie es eben nicht wirklich war[.], fand[.] sie ihr schmähliches Ende." Dies sei allen schlampigen Lesern von Robert Musil, die "Kakanien" als seliges Urbild der EU beschwören möchten, ins Stamm-Buch geschrieben.

Bevormundung

Und gerade jetzt, wo mit der schaumgebremsten Osterweiterung zwei Klassen von Europäern zu entstehen drohen, wäre es auch dringend an der Zeit, jene verdrängte Realität des Gegeneinander vor und nach 1918 nochmals zu erforschen, seine Spuren im kollektiven Gedächtnis - auch um den nationalistischen Polemiken von heute keinen neuen "Völkerkerker" anzudienen. Zeigt die k. (u.) k. Wirklichkeit um 1900 nicht auch Züge eines innereuropäischen Kolonialismus, zumindest: einer kulturellen Bevormundung, eines horizontalen und vertikalen Konflikts zwischen Klassen und Ethnien - und nicht nur jenen von Two Felix Austria vielbeschworenen Multikulturalismus?

Wien etwa: Die Fin-de-Siècle-Metropole nicht nur als Spielplatz von Schöngeistern, sondern auch als Schlachtfeld eines ethnisch-sozialen "Kulturkampfes um Bedeutung" zu sehen gehört inzwischen zum Common Sense der Geschichtsschreibung.

k.(u.)k. Militarismus

Ebenso wäre auch eine "postkoloniale" Sicht auf Bosnien der geschichtlichen Situation wahrscheinlich adäquater als so manch andere Worthülse - so provokant es auch auf den ersten Blick erscheinen mag, die k. (u.) k. Balkanpolitik im späten 19. Jh. mit der europäischen Inbesitznahme Afrikas zu vergleichen. Auf diese Weise käme wahrscheinlich auch der historische Beitrag Österreich-Ungarns zum Entstehen der nationalistischen Konflikte im ehemaligen Jugoslawien wieder ins Bild - so unliebsam er sein mag -, von den Denkschemata einer "zivilisatorischen" Fremdherrschaft bis hin zu einem k. (u.) k. Militarismus zwischen 1848 und 1918. Analog zur deutschen Wilhelminismus-Forschung müsste eine sinnvolle Auseinandersetzung mit den Hypotheken der Vergangenheit also schon vor 1934/38 und vor 1918, in jener "glücklichen" Epoche Kaiser Franz Josephs, ansetzen, interdisziplinär, zwischen Lemberg und Triest. Eine grenzüberschreitende kulturwissenschaftliche Arbeit täte Not, um neue Facetten und Falten des "österreichischen Antlitzes" anno k. (u.) k., seine Selbst- und Fremdbilder sichtbar zu machen und zu diskutieren. Nur so können meines Erachtens gute Voraussetzungen für eine neu definiertes, gut nachbarschaftliches Miteinander in Zentraleuropa geschaffen werden, das nicht den alten (mythisierten) Denkfehlern aufsitzt.

Clemens Ruthner ist Kulturwissenschafter am Österreich-Zentrum der Uni Antwerpen und Mitorganisator der Tagung "Kakanien revisited - Das Eigene und das Fremde (in) der Habsburger Monarchie" (24.-26. 8. 2000, Burg Raabs). Info: Waldviertel-Akademie, (02842) 537 37; E-Mail: kakanien@hushmail.com.

Gerade jetzt, wo mit der schaumgebremsten Osterweiterung zwei Klassen von Europäern zu entstehen drohen, sollte man die verdrängte Realität des Gegeneinander vor und nach 1918 erforschen.

Eine "postkoloniale" Sicht auf Bosnien wäre adäquater als so manche Worthülse - so provokant es auch erscheinen mag, die k. (u.) k. Balkanpolitik mit der Inbesitznahme Afrikas zu vergleichen.