Viel Bedarf, wenige Mittel: Schwarz- Gerö in der Montagvormittag unbesetzten Schreiambulanz.

Foto: Regine Hendrich
Wien - "Viele Mütter und Väter wissen gar nicht, dass das, was sie ihrem Kind antun, Misshandlung ist", sagt Josephine Schwarz-Gerö. Die Oberärztin der Kinderpsychosomatik und Schreiambulanz für Eltern im Wiener Wilhelminenspital meint das nicht provozierend, sondern spricht aus jahrelanger Praxis.

Als Beispiel zieht sie Angelika Mahler und ihren sechsmonatigen Sohn Oliver (Namen geändert) heran. Nachdem das Jugendamt die 22-Jährige wegen Wohnproblemen der Kinderpsychosomatik-Abteilung zugewiesen hatte, sei den Ärzten im Acht-Patienten-Pavillon zuallererst Olivers bitteres Weinen aufgefallen. Am Abend vor dem Schlafengehen habe sich das Brüllen des "etwas entwicklungsverzögerten und sehr ernsten" Säuglings noch verstärkt - unerklärlich, "bis wir auf Video aufgenommen haben, wie Frau Mahler ihren Buben badete".

"Bis das Blut kam" Nicht einfach gewaschen habe die Frau das Kind, sondern "abgeschrubbt, bis die Haut rot aufgelaufen war". Olivers erste Milchzähne habe sie mit einer elektrischen Zahnbürste bearbeitet, "bis das Blut kam". "Als wir sie darauf hinwiesen, dass das für den Buben Folter ist, sagte sie, dass sie nur das Beste für ihr Kind wolle.

Immerhin - so Frau Mahler - würde sie Oliver niemals schlagen, so wie ihre Mutter es mit ihr gemacht habe. "Im weiteren Behandlungsverlauf hat sich herausgestellt, dass die Frau von ihrer Mutter als Säugling an den Tisch angebunden und geprügelt worden war", schildert Schwarz-Gerö.

Als in einer Familientherapiesitzung auch noch die Großmutter von Zwangsfütterungen des Kleinkindes berichtet habe, sei klar geworden: "Hier handelt es sich um eine Geschichte schwerer transgenerationeller Gewalt gegen Kinder - eine Geschichte unter Abertausenden."

Teufelskreis durchbrechen

Einen solchen Teufelskreis familiärer Gewalt könne man durchbrechen, betont die Kinderärztin - man habe sogar die Pflicht dazu. Was sie und ihr multiprofessionelles Team im Pavillon fünf des Wilhelminenspitals anbieten, umfasst sie mit einem Wort: Prophylaxe". Der fatale Wiederholungszwang müsse bewusst gemacht und damit außer Kraft gesetzt werden: "Wer in einem Alter unter drei Jahren Opfer schwerer Gewalt geworden ist, wird dies ziemlich wahrscheinlich an seinen eigenen Kindern wiederholen."

Oft könne diese Gewalt in neuen Generationen neue Formen annehmen. Meist jedoch überschwemme sie die Betroffenen: "Viele unserer Patienten haben eine Borderlinestörung", sagt Schwarz-Gerö. Im Alltag scheinbar angepasst, stünden sie im Stress - etwa wenn das Baby nächtelang schreit - in Gefahr, zerstörerischen Impulsen nachzugeben.

Knappe Ressourcen Die Wirksamkeit ihrer Behandlung sieht Schwarz-Gerö vor allem durch Ressourcenknappheit begrenzt. Das zeige sich besonders drastisch am Beispiel der Schreiambulanz: einem an die Kinderpsychosomatik-Abteilung angeschlossenen Minipavillon, der überforderten Jungeltern eine niederschwellige Anlaufstelle bietet. Die dortige Ambulanzschwester könne pro Woche vier Erstgesprächstermine vergeben: "Ein Tropfen auf den heißen Stein", da sich allein im Oktober und im November 44 Eltern gemeldet hätten. (Irene Brickner/DER STANDARD – Printausgabe, 4.12.2007)