"Dass Opfer, die in ihrer Kindheit und Jugend Gewalt erlebt haben, später selbst zu Tätern werden können, ist ziemlich klar", bestätigt der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Ernst Berger im Standard-Gespräch. Häufig werde bei Gerichtsverfahren "retrospektiv festgestellt, dass bei dem Täter eine Gewaltbiographie vorliegt".

Eine der ersten Gelegenheiten, wo Opfer selbst zu Tätern werden können, ist die Schule. Ob die Gewalt unter Jugendlichen zugenommen und der Bedarf an psychischer Betreuung größer geworden sei? Berger zögert einen Moment. Doch dann bestätigt er: "Ja. Ich sehe das in Österreich bestätigt. Der Bedarf ist in unerwarteter Weise gestiegen." Wobei es allerdings in erster Linie um "eine Verschiebung des Krankheitsspektrums" gehe. "Vor allem die expansiven Störungen - also solche, die nach außen sichtbar werden -, sind auffälliger geworden", weiß der Leiter der Abteilung für Jugendpsychiatrie der Psychosozialen Dienste in Wien.

Wobei die Ursachen nicht nur in der häuslichen Gewaltszene zu suchen seien: "Geht in der Gesellschaft die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander, sind unter Jugendlichen verstärkt Phänomene wie Gewalt, Drogenkonsum, Leistungsabfälle oder Schulverweise. Es gibt britische Untersuchungen aus der Zeit, als unter Margret Thatcher der neoliberale Kurs verschärft wurde, die das durchaus bestätigten." Allerdings: "Es ist nicht so einfach, dass jene, die an der untersten Stelle der Sozialskala stehen, am meisten leiden. Soziale Spannungen wirken sich auf alle aus - etwa durch verschärften Konkurrenzdruck."

Dazu komme, dass "durch die permanente Darstellung von Gewalt in den Medien indirekt die Illusion erweckt wird, dass das eine Lösungsmöglichkeit bei Konflikten" sei. Und letztlich "ist das ja auch ein tragendes Gesellschaftsmodell: Die Ellbogengesellschaft funktioniert nach dem gleichen Denkmuster."

Betreuungsengpass Gleichzeitig gibt es aber auch bei der Betreuungs-Infrastruktur schwere Defizite. Ein Lichtblick: Kürzlich konnten erstmals an der Universität Wien Facharztprüfungen im neuen "Sonderfach" Kinder- und Jugendpsychiatrie abgenommen werden. Das heißt, dass diese Facharztausbildung nun anderen Fachrichtungen gleichgestellt ist.

Bisher musste erst eine Facharztausbildung abgeschlossen - und dann noch drei Jahre lang eine ergänzende Spezialisierung für die Kinder- und Jugendpsychiatrie drangehängt werden. Berger: "Das bedeutete, dass ein Kinder- und Jugendpsychiater seine Ausbildung erst mit 34 Jahren abgeschlossen hatte."

Doch das ist nur ein Aspekt: Tatsächlich sind Ausbildungsplätze für die Kinder- und Jugendpsychiatrie Mangelware. "Das Ziel war es, österreichweit rund 40 Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Da wir aber keine ausreichende Versorgungsstruktur haben, können auch noch nicht genug Ausbildungsplätze angeboten werden", erläutert Berger.

"Derzeit gibt es im Krankenanstaltenbereich in Österreich 344 Behandlungsplätze für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als 2006 vom Bund der Strukturplan Gesundheit erstellt wurde, war ursprünglich die Zielvorgabe von rund 600 Behandlungsplätzen drinnen. Diese Zahl wurde dann jedoch von der Strukturkommission, in der die Länder das Sagen haben, wieder herausgestrichen. Jetzt heißt es nur: Die Strukturmerkmale würden noch nachgereicht", so Berger.

Zehn Jahre hatte die politische Diskussion gedauert, bis die neue Ausbildung für Kinder- und Jugendpsychiater etabliert werden konnte. Jetzt fürchtet der Experte, dass es weitere zehn Jahre dauern wird, bis diese Strukturprobleme bereinigt werden können - in einem Gebiet, wo die Nachfrage Jahr für Jahr steigt. (Roman David-Freihsl/DER STANDARD – Printausgabe, 4.12.2007)