Der Komponist Dusan Sestic teilt die Musik in gute und schlechte ein. Schund nennt er manche Musikshows, die so über die Fernsehschirme der bosnischen Teilrepublik Srpska flimmern. "Reine Ablenkung" vom Nachkriegsalltag, die über kurz oder lang zu Verblödung führt.

Auf die Arbeit seiner Tochter Marija (Bild, Mitte) ist er allerdings stolz. Die jüngste Absolventin der Musikakademie in Banja Luka repräsentierte das seit den Kriegsjahren zerissene Bosnien-Herzegowina beim Eurovision Song Contest 2007 in Helsinki und landete auf Platz 11. "Rijeka bez imena", übersetzt "Fluss ohne Name" hieß das Lied. Für alle Menschen in Bosnien-Herzegowina, beteuert Marija, hätte sie "Fluss ohne Name" gesugen, nicht nur für die Serben, denn "der Krieg ist lange vorbei".

Das Lied, für das man Dusan Sestic in ganz Bosnien kennt, hat zwar einen Namen, aber keinen Text. "Eine Auftragsarbeit, nicht mehr", sei die bosnische Nationalhymne damals 1999 gewesen, meint der bosnische Serbe und schüttelt verständnislos den Kopf darüber, dass man sich nie auf einen gemeinsamen Text einigen konnte. Die ethnischen Gruppen würden nicht berücksichtigt, befand man damals. Die bosnische Hymne wird derzeit ohne Text gespielt. Zu groß sind die Klüfte noch zwischen Serben, Muslimen und Kroaten.

Aber auch innerhalb der Teilrepublik Srpska, die 1992 am Beginn des Jugoslawienkriges proklamiert wurde, gibt es derzei keine Hymne. Die serbische wurde abgeschafft, eine "eigene" gibt es bisher noch nicht.

Muharem Insanic sind solche Streitereien um "nationale Identitäten" genauso suspekt wie der Familie Sestic. Der 63-Jährige arbeitet lieber an seiner ersten Oper: "Safikada". Die Liebesgeschichte zwischen einem muslimischen Mädchen und einem österreichischen Soldaten Ende des 19. Jahrhunderts in Bosnien. "Als Humanist, sage ich: Wir sollten die Grausamkeiten des Krieges vergessen", sagt er. Nicht umsonst spielt er das Finale seiner Oper noch vor dem Ende des Gesprächs vor: Zuerst hört man die Glocken der serbisch-orthodoxen Kirche, dann jene der katholischen und am Schluss die Stimme des Muezzin.

Foto: Khorsand/derstandard.at

Auch in der Realität gäbe es solche Lieb- und Freundschaften. Viele Serben sind mit Bosniaken und Kroaten befreundet. Auch wenn ihre Kinder in verschiedene Schulen gehen und drei verschieden historische Wahrheiten über die Kriegsjahre und die ethnischen Gruppen hören. "Wir müssen alle als Opfer gesehen werden. Nicht als serbische, kroatische oder bosniakische Opfer", sagt der Soziologie-und Philosophiestudent Drazen. "Auf allen drei Seiten geschah Schreckliches".

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Welcher Volksgruppe Drazen (links) angehört, will der 29-Jährige nicht verraten. Seine Vision für die Serbenrepublik würde vielen gegen den Strich gehen. "Es wird keine Republika Srpska mehr geben. Es wird für eine kurze Zeit einen bewaffneten Konflikt geben und dann einen Transitionsprozess um die Serben in Bosnien zu integrieren." "Von welchem Transitionsprozess sprichst du denn da?", unterbricht ihn Sasa. Der Universitätsassistant unterrichtet Soziologie und Philosophie. Er ist Serbe und eine aufgelöste Republika Srpska kommt für ihn nicht in Frage.

Und trotzdem ist er mit Drazen befreundet. "In unserer Geschichte gibt es so viel böses Blut und Hass. Wir hören einander nicht zu", sagt Sasa. Dass er als Serbe im Ausland oft als "blutrünstiger Mörder" wahrgenommen wird, ist ihm bewusst. "Unsere Geschichte basiert auf Hass. Wir führen eine Sado-Masobeziehung", sagt er lachend.

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Viele Serben bemühen sich die Spannungen zwischen den ethnischen Gruppen zu ignorieren, im besten Fall aufeinanderzuzugehen. Die Fernsehjournalistin Senka Trivic erinnert sich an eine Begegnung mit einer serbischen Arbeitskollegin, die ihr sogar einen frohen Ramadan wünschen wollte. "Senka ist ein muslimischer Name. Dabei bin ich Serbin und arbeite seit zwei Jahren mit ihr zusammen. Sie hat es nett gemeint", sagt die 26-Jährige. Es klingt nachsichtig.

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Berislav Blagojevic entstammt einer "Mischehe". Sein Vater ist Kroate, seine Mutter Serbin. Theoretisch könnte er auch die kroatische Staatsbürgerschaft beantragen. "Ich könnte dann endlich reisen." Seine Freundin ermutigt ihn dazu. Berislav ist noch unschlüssig, erfühlt sich eigentlich mehr als Serbe. Aber reizen würde es den leidenschaftlichen Geografen schon, auch "den Westen" zu erkunden. Auch um die Leute dort davon zu überzeugen, dass nicht nur die Serben während den Kriegsjahren "fürchterliche Fehler" begangen hätten.

"Wenn etwas bei uns nicht klappt, heißt es immer wieder: die bösen Serben sind schuld. Aber ist denn jeder Amerikaner mit einem Hispanic oder jeder Deutsche mit einem Türken befreundet? Nur bei uns, ist so etwas nicht normal", sagt Senka.

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"Freunde ja, aber keine Beziehungen. Heiraten ist ausgeschlossen, da bleibt man unter sich", beschreibt Senka Trivic die vorherrschende Einstellung. Serben unter Serben, Bosniaken unter Bosniaken und Kroaten unter Kroaten. Selbst bei Muharem Insanics Oper "Safikada" gibt es kein Happy End. Safikada will ihren Eltern die Schande ersparen, dass sich ihre muslimische Tochter mit einem Christen eingelassen hat. Sie begeht Selbstmord. (Solmaz Khorsand, Manuela Honsig-Erlenburg, derstandard.at, 6.12.2007)

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