Die Waldschnepfe wird von Feinschmeckern geradezu mythisch verehrt. Für den Koch Fergus Henderson etwa ist sie "eines der größten essbaren Erlebnisse überhaupt".

Foto: Naumann, 1905

Schnepfe und erst recht die etwas größere Waldschnepfe sind aus unseren Speisekarten so gut wie verschwunden. Der von Kennern geradezu mythisch verehrte Bratvogel bleibt deshalb fast ausschließlich Jägern vorbehalten – wenn sie richtig gute Schützen sind, Schnepfen haben nämlich eine extrem erratische Flugbahn. Ein paar Zitate aus der Gastronomiegeschichte sollen die außerordentliche Stellung dieses Vogels bei den großen Feinschmeckern deshalb vorweg darlegen.

Grimod de la Reynière, noch vor Brillat-Savarin der erste literarische Gastronom, wertet die Schnepfe ebenso schlicht wie schockierend als "das Nonplusultra aller irdischen Freuden". Alexandre Dumas, der Mantel-und-Degen-Romancier und noch bessere Koch, warnt davor, Schnepfen anders als mit Messer und Gabel zu verspeisen: Würde die Hand vom göttlichen Saft des Vogels benetzt, so Dumas, "müsste man fürchten, sich im Rausche des Genusses sämtliche Finger abzubeißen".

Größtes essbare Erlebnis

Das ist, natürlich, bloß ironisch gemeint: Einer Schnepfe kann man einzig durch restloses Abnagen und Auszuzeln Gerechtigkeit widerfahren lassen – und das geht halt nur mit handfestem Einsatz. Denn die Waldschnepfe (französisch Bécasse, englisch Woodcock, italienisch Beccaccia) ist ein kleiner Vogel, der, gerupft und im Ganzen kurz gebraten, gerade mal 300 Gramm auf den Teller bringt. So aber stellt er, wie der große britische Koch Fergus Henderson schreibt, "eines der größten essbaren Erlebnisse überhaupt" dar. Wobei das mit dem "ganzen Vogel" durchaus wörtlich zu nehmen ist: Weil Schnepfen sich erleichtern, bevor sie losfliegen, werden sie nach klassischer, puristischer Manier – und nur die erscheint zulässig – tatsächlich mit Butz und Stängel, also ohne vorher ausgenommen worden zu sein, gebraten.

Nach wenigen Minuten heftigen Bratens, während derer die Brust die meiste Zeit von ungeräuchertem Speck geschützt ist, wird der Vogel warm gestellt, man holt die Innereien aus der Bauchhöhle, brät sie kurz in Butter, löscht mit ein, zwei Teelöffeln Armagnac oder Portwein und einigen, wenigen Tropfen Zitronensaft ab, salzt und pfeffert verhalten und häuft den so vollendeten Schnepfendreck auf die "Rôties", in Butter geröstete Baguette-Scheiben. Der knappe Bratensaft wird mit einem Hauch Armagnac flambiert, fertig. Ja nicht zu viel von irgendwas, das würde den Eigengeschmack nur gefährden. Waldschnepfe sollte nach Fearnley-Whittingstall mit "dem besten Bordeaux, den die Börse zulässt" gefeiert werden.

Es geht alles den Bach hinunter

So haben wir es auch gemacht, als wir unlängst Tisch und vier Vögel im Londoner Restaurant Wiltons ergattern konnten, einem der wenigen Plätze, wo Schnepfe zur Jagdsaison (bis Ende Dezember) angeboten wird. Wiltons existiert seit 1742, ist für Wildgeflügel und Krustentiere berühmt, sowie dafür, dass sich die Gäste in der Mehrzahl aus dem Adel und den oberen Rängen der Tory-Partei rekrutieren, weshalb man das Etablissement bis heute ausschließlich im Anzug betreten darf. Die Krawattenpflicht hingegen wurde unlängst gelockert, es geht halt alles den Bach hinunter. Ein stabiler Besenstiel im Hintern ist hier dennoch angezeigt, zumindest der darf unverändert als deutliches Erkennungszeichen unter seinesgleichen gelten.

Also ein passender Ort, um die erste Waldschnepfe zu verinnerlichen. Sie kam, wie sie kommen sollte: kompromisslos blutig gebraten, der Kopf mit dem langen, geraden Schnabel der Länge nach gespalten, damit man das kaum nussgroße Hirn mittels Kaffeelöffels ausschabe, der Dreck recht stark gewürzt und gar fein faschiert, aber von berückender Kraft. Das Fleisch bar jeden Fetts, von dichter, fester Konsistenz, von betörend mineralischem Geschmack, unheimlich tiefem und lang anhaltendem Aroma, ganz leicht tannenwipfelharzig, nach Heide und Moos duftend: ganz und gar einzigartig und von euphorisierender Wildheit.

Minutiös wurde jedes noch so winzige Knöchelchen abgenagt, bis plötzlich ein feines, rubinrotes Rinnsal ganz langsam meine linke Hand hinunter rann und irgendwann in der Manschette versickerte. Dem Mann am Nebentisch, einem Herrn in fortgeschrittenem Alter mit ebensolchen Tränensäcken, war das auch aufgefallen. Er sah ebenso aufmerksam wie regungslos zu. Erst, als meine Hemdkante ein dunkles Rot angenommen hatte, widmete er sich wieder seiner Tischgenossin. (Severin Corti/Der Standard/rondo/07/12/2007)