Und den Bewohnern mangelt es an Verbindung zur Natur.

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Auf breiter Front stürzen sich tosende Wassermassen über dunkle Sandsteinsockel. Am Ufer werden die Baumkronen der Urwaldriesen von den letzten Strahlen der Abendsonne in einen rötlichen Schimmer getaucht. Regungslos bewundert Roberta Freitas das imposante Schauspiel. Mit vier ihrer Kollegen der brasilianischen Umweltbehörde Ibama soll sie über den neuen Nationalpark wachen, in dem die Salto-Augusto-Wasserfälle liegen.

Der Rio Juruena gehört zum weitverzweigten System der Amazonas-Nebenflüsse. Der gleichnamige, 2006 ausgewiesene Park ist mit seinen fast 20.000 Quadratkilometern so groß wie Niederösterreich. Er gehört zu einem Gürtel aus Schutzgebieten am südlichen Rand des Amazonasbeckens, mit dem die Abholzung des Regenwaldes gestoppt werden soll.

Die Zeit drängt. Von Süden rollt der "Bogen der Zerstörung" unaufhaltsam heran. Etwas davon hat Roberta Freitas auf ihrem Flug in den Park gesehen: große Rinderherden, Rauchschwaden von Brandrodungen, hellgrüne Lichtungen mitten im Urwald. "Wir sind hier, um die Gesetze durchzusetzen. Aber die Leute hier spüren keine Verbindung zur Natur", sagt Freitas, eine 25-jährige Geografin. "Wir haben viele Informationen über Umweltvergehen, aber mit unseren knappen Ressourcen können wir nur selten eingreifen."

In der Gemeinde Apiacás, die fast die Hälfte ihres riesigen Territoriums an den Juruena-Park abtreten musste, fristen viele Einwohner ein karges Dasein als Kleinbauern. Nach dem Ende eines Goldrauschs vor 15 Jahren und langen, blutigen Konflikten mit Großgrundbesitzern hat die Regierung Hunderten von Familien Land zugeteilt. Für ihre Produkte finden sie kaum Abnehmer. Beim Tropenholz ist das anders. Das lässt bereits die Landschaft ahnen, die sich beiderseits der unasphaltierten Landstraße von der ländlichen Armensiedlung Vila Mutum bis nach Apiacás erstreckt.

Einzelne schlanke Palmen und abgestorbenes Geäst ragen in den Himmel. Auf den meisten gerodeten Flächen ist zwischen verkohlten Baumstämmen Buschwerk nachgewachsen, auf anderen weiden Rinder. Ein Lastwagen ohne Nummernschild hat neun dicke Baumstämme geladen. Sie gehören dem Beifahrer, einem zierlichen Mann um die fünfzig. Von den paar hundert Euro, die er im Sägewerk bekommt, kann seine Familie ein paar Monate lang leben, sagt er. Das Risiko, von Ibama-Inspektoren gestoppt zu werden, sei gering: "Es spricht sich schnell herum, wenn Gefahr droht." Von den Nachfahren der Ureinwohner ist keine Spur zu sehen. "Es gibt gar keine Indígenas mehr auf unserem Territorium", behauptet Bürgermeisterin Silda Kochemborger. Die Bundesregierung in Brasília sieht das anders: Östlich des Nationalparks liegen mehr als 10.000 Quadratkilometer ausgewiesenes Indianerland, in das immer wieder Holzfäller eindringen.

Mit dem Juruena-Park hat sich die Bürgermeisterin abgefunden. Die Umweltstiftung WWF soll zusammen mit den Behörden dafür sorgen, dass er mehr wird als nur ein Park auf dem Papier. Sein Artenreichtum macht ihn zum Paradies für Naturforscher. Irgendwann sollen Ökotouristen hinzukommen. Holzwirtschaft oder Viehzucht sind nicht gestattet. "Das funktioniert nur zusammen mit der Bevölkerung, besonders mit den mächtigen Akteuren und den Politikern", sagt Marcos Pinheiro vom WWF-Brasilien. Mit dem großen Panda auf seinem T-Shirt, seinem Vollbart und seinem Pferdeschwanz ist der wohlbeleibte 40-Jährige eine Hassfigur für die örtliche Holzmafia. Wegen schärferer Kontrollen der Behörde sind heute in Apiacás nur noch zehn Sägewerke in Betrieb, vor ein paar Jahren waren es noch 22. "Wir müssen die Leute in die Legalität zurückführen", ist Pinheiro überzeugt.

Bewusstseinsarbeit

Für das Ökobildungszentrum, das 2008 eröffnet werden soll, hat die Gemeinde ein Grundstück bereitgestellt. "Wir müssen die Mentalität des Raubbaus überwinden, mit der unsere Generation in den Achtzigerjahren hergekommen ist", sagt Silda Kochemborger. Die Bürgermeisterin, die viel von "nachhaltiger Entwicklung" und "Bewusstseinsarbeit" redet, hofft auf eine Entlastung ihres kargen Gemeindehaushalts. Etwa bei der Stromversorgung, die bislang durch Dieselgeneratoren gewährleistet wird. Zwei Wissenschafter überlegen im Auftrag des WWF gerade, wie man aus der Kakaofrucht Cupuaçu Agrodiesel gewinnen kann.

Auf der Jahresfeier der Gemeindegründung zeigt sich die Bürgermeisterin mit ihrem prominenten Parteifreund Blairo Maggi. Der Gouverneur von Mato Grosso steht auf der Bühne der Mehrzweckhalle von Apiacás und ruft pathetisch: "Die Welt steht auf dem Scheideweg. Es ist erwiesen, dass die Umweltprobleme unsere Kinder und Enkel betreffen werden. Doch wer bezahlt die Rechnung?" Sein Vorschlag, für den er auch in den USA und in Europa wirbt, lautet: "Jeder Produzent muss pro Hektar und Jahr einen bestimmten Betrag bekommen, damit er sich in einen Urwaldschützer verwandeln und seine Familie ernähren kann." Die Rede ist auf die anwesenden WWF-Leute aus Brasilien und Deutschland zugeschnitten. Der Gouverneur des drei Millionen Einwohner zählenden Bundesstaats sagt aber auch: "Jeder hat das verfassungsmäßige Recht, 20 Prozent seines Grundstücks abzuholzen." Die Halle jubelt.

Als einer der größten Sojaproduzenten der Welt und Verbündeter von Präsident Lula da Silva treibt Maggi seit 2003 als Gouverneur die Politik zugunsten des Agrobusiness persönlich voran. Mato Grosso liegt bei den brasilianischen Entwaldungsstatistiken regelmäßig vorne. Dennoch lobt WWF-Amazonasreferent Pinheiro vor den versammelten Lokalreportern die Rede des gewieften Politikers. Plötzlich steht ein Mann mit Sonnenbrille auf der Bühne und hält mit zwei Kindern ein orangefarbenes Transparent hoch. "WWF raus!" steht darauf. In der Halle wird es unruhig. "Die Europäer haben es doch lediglich auf unsere Reichtümer abgesehen", schimpft ein Dorfbewohner, "bei ihnen selbst haben sie alle Urwälder abgeholzt, und jetzt kommen sie her und wollen uns Vorschriften machen."

Den Leuten vom WWF wirft er vor, dass diese sich nur um Tiere, Wälder und Flüsse kümmerten, aber nicht um die Menschen, die hier leben. Im Nationalpark besitze er 8500 Hektar Land. "Wann werde ich entschädigt? Das Recht auf Eigentum muss doch respektiert werden!" Seitdem Lula das Nationalparkdekret unterzeichnet hat, sind die Ibama-Leute kein einziges Mal in Apiacás aufgetaucht. Wegen einer Umstrukturierung in Brasília kamen die Aktivitäten der bürokratielastigen Umweltbehörde zeitweilig fast zum Stillstand.

Auch am Salto Augusto, 150 Kilometer weiter nordwestlich, ist die Lage kompliziert. Denn ein langer Streifen Land östlich der Wasserfälle wird bereits seit zwölf Jahren genutzt, einschließlich Landepiste und eines Urwaldhotels für Sportangler. Der Eigentümer des Hotels, Paulo Traven, fühlt sich überrumpelt. Traven (39), sportlich, indianische Gesichtszüge. Er empfängt die Reisegruppe freundlich, aber auch misstrauisch. Vom jugendlichen Goldsucher hat er es zu einem der größten Diamantenhändler Brasiliens gebracht. 2006 stand er unter dem Verdacht des Diamantenschmuggels, musste sich der Polizei stellen. "Das ist alles überstanden", versichert er.

300 Kilometer weiter südlich betreibt Traven mehrere Förderanlagen, "alles ganz legal". In der Region hat seine Stimme Gewicht. Den Kauf des fast 22 Quadratkilometer großen Filetstücks an den Wasserfällen bezeichnet er als "Glücksfall". Am Ufer des Rio Juruena tanzen Dutzende bunter Schmetterlinge. Hinter dem Salto Augusto, dessen Kaskaden vom westlichen Ufer aus besonders majestätisch wirken, ziehen weiße Reiher über den Himmel. In fließendem Englisch umreißt Traven seine Lebensphilosophie: "Ich sehe immer in die Zukunft. Der Fortschritt kommt, die Straßen kommen, ich habe hier Schürfrechte." Selbst kleine Wasserkraftwerke ließen sich im Juruena bauen, "technisch kein Problem". Gouverneur Maggi sieht das ähnlich.

Ob er sich vorstellen könne, in Brasília eine Entschädigung zu beantragen? Traven überlegt keine Sekunde: "Niemals. All das hier will ich für meine Kinder erhalten. Ich habe immer noch nichts von dem Nationalpark gehört." Die acht Kilometer vom Salto Augusto zum Urwaldhotel chauffiert er die Gäste persönlich. Hinter der Landepiste geht die Fahrt an einer gerodeten Viehweide vorbei. Das Anglerhotel liegt malerisch an einer Flussschleife des Rio Juruena.

Beim Mittagessen versuchen die angereisten Umweltschützer, dem Gastgeber ihre Vision von einer Ökolodge nahezubringen, wo die Besucher auf Wanderpfaden die Vögel, Affen oder Tapire bewundern könnten. Roberta Freitas verfolgt die Gespräche mit skeptischem Gesichtsausdruck. Ihr ist klar geworden, wie schwierig es sein wird, hier einen Nationalpark zu machen. (Gerhard Dilger, DER STANDARD - Printausgabe, 7. Dezember 2007)