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Wie ein Ufo, das auf einer Klippe am Rand des Atlantik gelandet ist – und im Hintergrund der Zuckerhut: Oscar Niemeyers Kunstmuseum in Niterói aus dem Jahr 1991.

Foto: Kadu Niemeyer/Arcaid/Corbis

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Foto: Reuters/Moraes
Vor 20 Jahren saß Oscar Niemeyer wie gewöhnlich abends in seinem Stammlokal Nino's an der Copacabana und ließ mit alten Freunden den Arbeitstag bei guten Speisen und Getränken ausklingen, als ein Mann das Strandrestaurant betrat.

Der bemerkte die fröhliche Architektenrunde und begann lautstark die "braunhäutigen Sozialisten und Kommunisten" zu verhöhnen. Niemeyer erhob sich bedächtig, bezahlte seine Rechnung, trat an den Tisch des politisch offenbar gänzlich anders gesinnten Gastes - und betonierte ihm eine.

Damals war er 80. Der andere war halb so alt und doppelt so groß. Und genau das habe ihn in Rage gebracht: Die Herablassung des Stärkeren dem Schwächeren gegenüber. Dagegen war er zeitlebens schon angetreten.

Kommenden Samstag wird Oscar Niemeyer 100. Die Architekturwelt wird ihn als den letzten der großen Modernen feiern, der noch unter uns weilt. Ein Dinosaurier, ein Relikt, Zeuge einer untergegangenen Zeit, seit 1945 Mitglied der Kommunistischen Partei, Ausnahmearchitekt, Lebemann, Carioca.

"Ich habe meine Architektur mit Mut und Idealismus gebaut", resümiert er in seinen Memoiren Curves of Time (eben als Jubiläumsausgabe bei Phaidon erschienen, € 9,95), "aber auch immer in dem Bewusstsein, dass das, was im Leben zählt, Freundschaft ist, und der Versuch, diese ungerechte Welt zu einem besseren Ort zu machen."

Zu einem besseren Ort - nicht mehr und nicht weniger. Und in vielen seiner ganz außergewöhnlichen Projekte ist das dem kleinen Mann aus Rio de Janeiro auch gelungen.

Niemand vor und nach ihm hat dem Stahlbeton eine derart kühne Leichtigkeit und Eleganz zu verpassen vermocht wie Niemeyer.

Seine Häuser scheinen auf geschwungenen Stützen zu schweben, seine Kirchen mit zarten Stahlbetonstreben den Himmel zu umarmen. Jedes Projekt ist eine große, in feinen Beton gegossene Skulptur und eine technische Meisterleistung der Sonderklasse.

Der leichtfüßigere Corbusier

Le Corbusier und Oscar Niemeyer - die beiden waren die unerreichten Betonmeister unter den Baukünstlern. Doch der Brasilianer war stets der leichtfüßigere von den zweien - und möglicherweise auch der menschenfreundlichere.

Als Niemeyer Anfang der 50er-Jahre den Wettbewerb für das UNO-Hauptgebäude in New York gewann, zitierte ihn der um 20 Jahre ältere Schweizer, der sich ebenfalls am Wettbewerb beteiligt hatte, unmittelbar nach der Jurysitzung zu sich. Man redete. Schließlich bauten sie das Haus gemeinsam.

Niemeyer schreibt in Curves of Time, dass Le Corbusier nie gerne über dieses gemeinsame Projekt gesprochen habe: "Aber ich erinnere mich daran, wie er mich viele Jahre später beim Lunch in seiner Wohnung eine Weile anstarrte und dann sagte 'Du bist sehr großzügig'. Ich denke, dass er sich damals verspätet an jenen Morgen in New York erinnert hat."

Doch letztlich steht außer Zweifel, dass sich die beiden Formenkünstler gegenseitig beeinflussten, und dieser Pas de deux begann Mitte der 40er-Jahre, als die ganz junge brasilianische Architektenavantgarde eben diesen Le Corbusier mit dem Zeppelin nach Rio einflog, um von ihm zu lernen. Das Resultat war das gemeinsam geplante Gebäude für das Ministerium für Bildung und Erziehung im Zentrum Rios, das als gebautes Manifest der brasilianischen Moderne par excellence gilt.

"Wir wollten dem Rest der Welt zeigen, dass wir Brasilianer keine Wilden waren, die mit buntem Federschmuck vor Fremden Tänze aufführen", meinte Niemeyer unlängst in einem Interview - und diese neue, ganz andere Architektur sollte zugleich auch das gebaute Manifest der noch jungen, aufstrebenden Republik Brasilien werden.

Man darf nicht außer Acht lassen, dass damals die Architektenzunft der USA und Europas gerade den rechten Winkel zum strengsten Maß aller Dinge erklärt hatte. Doch damit hatte Niemeyer noch nie etwas anfangen können.

Die Zutaten seiner Entwürfe entnahm er vielmehr der begnadeten Topografie seiner Heimatstadt Rio - den steilen Granitformationen, die dieser Stadt den bizarren Rahmen geben, den elegant geschwungenen cremeweißen Sandstränden, dem Dschungelfilz, der jeden noch freien Quadratmeter zwischen den Häusern mit Grün ausfüllt. Und - natürlich den Kurven der Frauenwelt, die Niemeyer stets mit großer Hingabe zu studieren pflegte. Bis heute hängt über seinem Schreibtisch im Architekturbüro direkt an der Copacabana ein Bild äußerst spärlich bekleideter wohlgestalter Damen, und darauf angesprochen meint er: "Das ist es, was mich lebendig hält."

Pampulhas und Brasília

Diese geschwungenen Formen erprobte er zuerst in Belo Horizonte, wo er den Stadtteil Pampulhas aus zierlichen, gekonnt aneinandergefügten Einzelbauten zusammensetzte, und er exportierte sie wenig später in das hinterste Hinterland Brasiliens, wo der 1956 gewählte Präsident Juscelino Kubitschek die neue Hauptstadt Brasília aus dem Dschungelboden stampfen ließ.

Der Masterplan für dieses Wahnsinnsprojekt stammte von Lúcio Costa, die Bausteine von Niemeyer. Doch so imposant und architekturgewaltig die Anlage auch sein mag - sie blieb letztlich das absurde Monument eines fortschrittsgläubigen Größenwahns, eine riesenhafte, menschenleere Geisterstadt, die nie wirklich zum Leben erweckt werden konnte. Er selbst könne nicht sagen, warum er immer diese großen, öffentlichen Gebäude designt habe, schreibt Niemeyer: "Aber weil diese Häuser nicht immer der sozialen Gerechtigkeit dienten, habe ich zumindest versucht, sie schön und spektakulär zu machen, sodass die Armen sie betrachten und ihre Freude daran haben können. Als Architekt war das alles, was ich tun konnte. (...) Als wir die Cieps (Anm.: Schulgebäude in Rio) bauten, waren wir froh darüber, dass die Kinder der Armen sie mochten, als ob diese Gebäude ihnen Hoffnung gaben, eines Tages Zugang zu dem zu haben, was nur den Reichen vorbehalten ist."

Die Zeit der Militärdiktatur verbrachte Niemeyer in Paris, baute dort die Zentrale der Kommunistischen Partei, baute eine Universität in Algerien, hatte Heimweh, betrachtete die Wolkenformationen, wie er es schon auf den langen Autofahrten zwischen Rio und Brasília stundenlang getan hatte: "Sie formten Kathedralen, Monster und - viel öfter, weil ich danach Ausschau hielt - wunderbare luftige Frauenkörper."(Ute Woltron, ALBUM/DER STANDARD/Printausgabe, 08./09.12.2007)