Foto: Thomas Rottenberg

Jeweils montags und donnerstags eine Stadtgeschichte Thomas Rottenberg

Ich sah nur eine Straßenbahn in der Haltestelle.

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Es war soeben. Da begann ich zu verstehen, wovon der Mann an der Straßenbahnwendestelle gesprochen hatte. Denn damals, Ende September, waren wir zwar höflich nebeneinander gestanden, hatten einander sogar Platz zum Knipsen gemacht – aber was der andere hier eigentlich suchte, wollte & tat, hatte wohl keiner von uns beiden Begriffen.

Es war an der Endstation der Straßenbahnlinie 52. Ich war am Weg zu einer Enthüllung: Der Kulturstadtrat sollte am Wohnhaus des großen Leon Askin eine Tafel einweihen. Das Wetter war scheußlich nasskalt. Und große Lust, die Kamera schon auf der Straße auszupacken, hatte ich nicht. Aber irgendwie hätte ich das Gefühl gehabt, etwas zu übersehen oder auszulassen, was eventuell wichtig sein könnte, wenn ich das Schild „Leon-Askin-Platz“ nicht mitgenommen hätte. Außerdem – Journalisten sind Herdentiere – hatte der Kollege, der in der Straßenbahn schon so nervös gewesen war, jetzt auch seine Kamera ausgepackt.

Alle drücken ab

Journalistische Amateurfotographie funktioniert so: Wenn einer knipst, drücken auch die anderen ab. Man kann ja nie wissen, was der Kollege da sieht. Und weil Speicherplatz nix kostet ... Der Mann neben mir murmelte außerdem ständig: „Eine Sensation. Das muss man dokumentieren. Das ist hoch interessant.“ Oder so ähnlich. In jedem Fall war er höchst konzentriert bei der Arbeit – und ich bewunderte ihn für seinen Enthusiasmus: Die Geschichte der Wiener Ehrenplätze ohne Adressnutzer ist zwar immer wieder nett, aber keine Sensation.

Dann sah ich die Kamera des Kollegen: Eine Leica. Analog. Wer heute noch so fotografiert, weiß was er tut. Und warum. In der Regel ist das etwas Sinnvolleres und Nachhaltigeres, als B-Promis, Lokal-Politiker und ähnliche Objekte abzulichten. Und weil wir Sinnlos-Knipser in Wien einander eigentlich kennen, fragte ich den „Neuen“ für wen er denn die Askin-Geschichte schösse.

Triebwagen

Der Leica-Mann sah mich an, als hätte ich ihn nach der Postleitzahl des Mondes gefragt: „Askin? Kenn ich nicht – aber schau dir mal den Triebwagen an. Das ist doch unglaublich, das gibt es eigentlich gar nicht.“ Und dann folgte eine Suada von technischen Termini, aus denen ich nur heraushören konnte, dass die Straßenbahngarnitur, die da in der Warteschleife stand, eigentlich gar nicht auf diese Strecke gehöre. Und dass das hochinteressant sei und irgendeiner Community mitgeteilt werden müsse.

Für mich stand da eine Straßenbahn. Kein Ulf – soweit kenn sogar ich mich aus. Aber das Referat des Leica-Mannes klang, als fände da eine Verschiebung der Elemente im Periodensystem statt, die die Frage nach der Gültigkeit der Schwerkraft neu aufwerfe. Dann verabschiedete sich der Leicamann: Er habe es eilig und müsse weiter. Weil er eigentlich am Weg ganz woanders hin gewesen sei, als dieser Zug an ihm vorbeigefahren sei – und um der Community zu beweisen, dass er nicht spinne, habe er eben bis zur Endstation mitfahren müssen. Dann verabschiedete er sich – und stapfte in den kalten Nieselregen.

Herzblutneid

Ich war beeindruckt. Und fast ein bisserl neidig. Weil ich Menschen, die sich in ein für mich völlig belangloses Thema derart vertiefen könne, oft um ihre Hingabe und Begeisterungsfähigkeit beneide. Und ihre akurate Detailverliebtheit gleichzeitig schätze und fürchte: Ohne solche Figuren mit ihrer Expertise und ihrem Sendungsbewusstsein wären Oberflächenjournalisten wie ich den offiziellen PR-Schaumschlägern oft chancenlos ausgeliefert. Aber wehe, wenn einer von ihnen sich in einen – für die Echtwelt doch im Grunde irrelevanten – Detailfehler verbeißt.

Egal: Fünf Minuten später enthüllte der Stadtrat eine Tafel – und der Leicamann war vergessen. Erst am nächsten Morgen stolperte ich beim Runterladen dann über die Leon-Askin-Wendeplatzbilder. Aber die Triebwagensache blieb ausgeblendet.

Stolz

Nach der letzten Stadtgeschichte („Sardinenfahrt“) wies ein Poster dann aber auf die „Fanpage der Wiener Linien“ hin. Ich blätterte ein bisschen drin herum. Und da war es wieder - dieses Gefühl von Bewunderung und Neid-aufs-Herzblut. Und als ich in der etwas kryptischen Rubrik „unendliche Geschichte“ dann ein Zitat aus einer alten uralten Stadtgeschichte („Hier fuhr einmal die Straßenbahn – auch wenn das heute keine Rolle mehr spielt.“) als Link auf eine Vergessene-Tramwaystrecken-Seite entdeckte, war ich fast ein bisserl stolz.

Die Bilder des Leica-Mannes konnte ich trotzdem nicht finden. Vermutlich habe ich einfach falsch gesucht. Weil ich gar nicht weiß, wonach genau ich Ausschau halten sollte. Aber ich glaube, das macht nichts. (Thomas Rottenberg, derStandard.at, 10. Dezember 2007)