Der Arzt, der Stimmen fit machen kann: Rainer Kürsten ordiniert gegenüber der Wiener Oper. Was er beklagt: die systematische Überlastung der Sänger im Musikbetrieb.

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Dass ausgerechnet dem Göttervater Wotan bei der Premiere von Richard Wagners Walküre an der Wiener Staatsoper seine Stimme abhanden kam, hätte zwar fast noch zur Deutung des Stücks durch Sven-Eric Bechtolf gepasst. Denn ein menschliches Bild der ohnmächtigen Götter hatte der Regisseur ja zeichnen wollen. Der Zwischenfall, der für einiges Aufsehen sorgte, zeigte aber insbesondere, dass auch Sänger Menschen sind. Ebenso machte die Panne klar, dass auch die "Götter in Weiß" in vielen Fällen helfen, aber eben doch keine Wunder bewirken können.

So nahe die Ordination von HNO-Arzt Reinhard Kürsten am Ort des Geschehens liegt - vom Haus am Ring kommend braucht man nur die Operngasse zu überqueren -, so weit war der Laryngologe auch in diesem Fall davon entfernt, Wunder zu versprechen. Erst zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung war er angerufen worden, weil der Darsteller des Wotan, Juha Uusitalo, in der Früh Halskratzen verspürt hatte. "Zu diesem Zeitpunkt war es völlig unklar, ob es ein beginnender Infekt war, den man noch nicht sieht, oder Überforderung von den Proben", erzählt der Arzt. "Erst während der Vorstellung konnte man sehen, dass es sich um eine Luftröhrenentzündung handelte. Ein Klassiker." Dabei seien beim finnischen Bassbariton die Stimmbänder völlig in Ordnung gewesen.

Uusitalo, der übrigens mit dem Standard ganz offen über die Geschichte gesprochen und Kürsten in dieser Sache von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden hat, berichtet: "Ich bin eigentlich erst während der Vorstellung krank geworden: Das war ein unwahrscheinliches Pech." Trotz der leichten Irritation sei er wohl zu optimistisch gewesen, was sich allerdings in anderen Fällen schon bewährt habe: "Schon öfter habe ich mit Erkältung gesungen. Einmal sang ich in Tokio den Fliegenden Holländer, obwohl ich grünen Schleim und Blut gehustet habe. Das war sogar eine meiner besten Aufführungen."

So merkwürdig dieses Geständnis für Laien klingen mag, so wenig überrascht es den Facharzt. Kürsten: "Mit Bronchitis oder Sinusitis (Nebenhöhlenentzündung) kann man manchmal noch singen. Das ist zwar unangenehm, aber es geht. Sobald aber der Kehlkopf oder die Luftröhre angegriffen sind, ist es vorbei. Auch wenn die Stimmbänder nicht unmittelbar betroffen sind." Dass ein bereits vorhandener Infekt allerdings mitunter sehr rasch auf diesen sensiblen Bereich zwischen Kehldeckel und Bronchien überspringen kann, ist unter anderem dafür verantwortlich, dass jede Prognose einem Balanceakt gleichkommt. "Natürlich gibt es klare Fälle, wo man weiß, dass es gehen wird. Hundertprozentige Sicherheit gibt es aber nie. Außerdem ist es ein Irrglaube, dass man alles behandeln kann. Es gibt Dinge, die kann man einfach nicht fitspritzen."

Sensibler Muskel Außerdem betrachtet es Kürsten gar nicht als seine Aufgabe, Vorstellungen zu retten. "Meine Funktion als Sängerarzt ist es vor allem, die Sänger zu schützen. In unserer Zeit muss immer alles funktionieren und vorhersehbar sein. Die menschliche Stimme ist aber viel komplexer, als man sich das als Laie vorstellt. Die Leute wissen nicht, was Singen für eine Leistung ist."

Für den Mediziner besteht jedenfalls kein Zweifel daran, dass es sich bei einem Sänger um einen Spitzensportler handelt. Kürsten: "Stimmbänder - ich mag den neuen Ausdruck Stimmlippen nicht - sind schleimhautüberzogene Muskeln. Daher gelten ähnliche Kriterien wie bei der Sportmedizin. Singen hat wie Speerwerfen und jeder andere Sport etwas mit Muskeltraining und Technik zu tun. Beim Joggen gibt es einen Trainingsbereich, darüber hat man keinen Gewinn. Beim Singen ist das ähnlich. Wie alle Muskeln ermüden auch die Stimmbänder. Deshalb ist es wichtig, ihnen Regeneration zu gönnen."

Die Frage, wie viel ein auf Sänger spezialisierter Arzt von Gesangstechnik verstehen müsse, beantwortet er indessen eindeutig: "Wären Ärzte wirklich gute Sänger, ständen sie auf der Bühne und nicht in der Praxis. Weil sie aber nicht gut genug singen, sollten sie Sängern keine technischen Ratschläge geben. Ich lasse mich ja auch nicht von Sängern medizinisch behandeln." Wichtig sei es aber, den Betrieb zu kennen: "Manchmal sind die Proben viel zu eng hintereinander angesetzt, sodass sich die Stimme nicht genügend erholen kann."

Überforderung "Überhaupt nimmt der heutige Theaterbetrieb oft zu wenig Rücksicht darauf, dass Singen Biologie ist und Stimmbänder keine Saiten sind, die man unbegrenzt anschlagen kann. Opernsänger werden teilweise systematisch überlastet oder überlasten sich selber. Das ist ein generelles Problem, das Dirigenten, Regisseure und Intendanten verantworten, aber auch das Publikum, wenn es um die öffentliche Generalprobe geht und Sänger kritisiert werden, wenn sie sich für die Premiere schonen", so Kürsten.

Prinzipiell müsse zwar immer der Sänger die Entscheidung treffen, ob er sich einen Auftritt zumuten könne. Oft sei es aber hilfreich, einen Rat von außen einzubringen: "Den Tenor Neil Shicoff habe ich bei der Generalprobe zu Pique Dame herausgenommen, weil das notwendig war, auch wenn der Direktor mit der unsicheren Prognose damals nicht zufrieden war." Mit einer solchen unsicheren Prognose müssten alle hin und wieder leben: "Am einfachsten ist es natürlich, wenn man im Zweifelsfall absagt", meint Kürsten. Juha Uusitalo jedenfalls geht es nach einigen Sitzungen bei Kürsten besser. Am Freitag wurde entschieden, dass er die Vorstellung am Sonntag singen würde. (Daniel Ender, MEDSTANDARD, 10.12.2007)

Der Arzt, der Stimmen fit machen kann: Rainer Kürsten ordiniert gegenüber der Wiener Oper. Was er beklagt: die systematische Überlastung der Sänger im Musikbetrieb. Foto: Hendrich