Ein neues Tattoo, das den Zutritt in einen exklusiven Zirkel öffnet: Viggo Mortensen als Gangsterchauffeur Nikolai in "Eastern Promises".

Foto: Tobis / Peter Mountain

David Cronenberg (64) erwarb sich mit einer Reihe von klugen Horrorfilmen, die sich an körperlichen Besonderheiten abarbeiteten ("Shivers", "Scanners", "Videodrome") eine treue Fangemeinde. Unverwechselbar wie kaum ein anderer Regisseur befasst er sich mit ambivalenten Themen wie Gewalt, Sexualität oder gesellschaftlichem Wandel.

Foto: Tobis / Peter Mountain

Über Tattoos, Gewalt und seine Liebe zu simplen Ideen sprach der Regisseur mit Dominik Kamalzadeh.

STANDARD: Mr. Cronenberg, Gerüchten zufolge haben Filmkritiker in den ersten Pressevorführungen von "Eastern Promises" geschrien. Sie müssen also zufrieden sein.

Cronenberg: Ich finde, Filmkritiker sollten generell mehr schreien. Es ist an der Zeit. Nun, es freut mich natürlich, weil man Kritiker sicher nicht leicht aus der Reserve lockt. Auch das erste öffentliche Screening mit 2000 Menschen war fantastisch, weil nicht nur geschrien, sondern auch gelacht wurde. Alle Witze wurden angenommen, und es gibt einige davon im Film. Nach der Szene im Bad – wir werden wohl noch darüber sprechen – gab es sogar Applaus.

STANDARD: Ich komme darauf zurück – zunächst wollte ich aber nach Ähnlichkeiten zu "A History of Violence" fragen. Nicht nur sind die Schauspieler – Viggo Mortensen und Naomi Watts – dieselben, auch bestimmte Konstellationen sind vergleichbar.

Cronenberg: Ich weiß, es klingt unglaubwürdig, aber die Gemeinsamkeiten sind zufällig. Ich hatte keinerlei Absicht, eine Art Fortsetzung zu drehen. Wissen Sie, es ist so schwer, die Realisation eines Film zu sichern, und noch dazu von einem, den man von Anbeginn mag. Es gab viele mögliche Filme, die sich in der Zwischenzeit auftaten, dann aber aus irgendeinem Grund scheiterten. Wäre es einer davon geworden, hätten Sie mich jetzt nicht gefragt.

Aber es gibt natürlich eine Art glückliche Fügung. Was den kreativen Prozess anbelangt, war die Produktion dennoch sehr unterschiedlich zu "A History of Violence". Letzterer war ein Film über Amerika, der in einer Kleinstadt bei gleißendem Sonnenlicht spielt. "Eastern Promises" ist nicht über Amerika, die Figuren sind Osteuropäer in London, und das Englische daran war für mich auch eine der Attraktionen des Films. Der Film ist eine Art Neo-Noir, er spielt hauptsächlich in der Nacht, auf nassen Straßen.

STANDARD: Sie dringen in eine Welt mit ganz spezifischen Codes ein – eine Parallelgesellschaft von russischen Gangstern. Was hat Sie daran gereizt?

Cronenberg: Ganz generell die Idee, dass hier viele Nationalitäten unter einer "umbrella culture" leben, und jede davon ihre Sprache und Religion, ihre Restaurants und Musik hat. Toronto, wo ich lebe, ist in dieser Hinsicht ganz ähnlich. Das unterscheidet es stark von der Schmelztiegel-Idee, die sehr amerikanisch ist und in der es mehr darum geht, die Vergangenheit abzulegen, um ein anderer zu werden. Eine andere Theorie.

STANDARD: Die Identität von Nikolai, der Hauptfigur, ist komplizierter, als man annimmt. Er arbeitet als Chauffeur des Gangstersohns, verfolgt aber heimlich ein anderes Projekt.

Cronenberg: Er weiß ganz genau, wer er ist. Er unterdrückt nichts an seiner Identität, er versteckt vielleicht etwas, anders als die Figur aus "A History of Violence", die verzweifelt versucht, ihre Vergangenheit ruhen zu lassen.

STANDARD: Alles, was er ist, steht auf seiner Haut in Form von Tattoos geschrieben. Wie ist die Idee dazu entstanden?

Cronenberg: Zunächst waren die Tätowierungen nur eine Nebensache. Es war Viggo, der ein Buch mit dem Titel "Russian Criminal Tattoo" aufstöberte und den Dokumentarfilm "The Mark of Cain", in dem es um Tätowiercodes in russischen Gefängnissen ging. Die gibt es seit 150 Jahren. Ich wusste sofort, dass wir das in den Film aufnehmen müssen. Es sollte eine zentrale Metapher des Films werden, weil sie so stark ist und hilft, die Realität der Gangster zu beschreiben.

Die Frage war, wo Nikolai die neue Tätowierung bekommt: Geht er in ein Studio? In einen Shop? Ich mochte die Idee, dass es in dem zentralen Restaurant passiert, obwohl es nicht sehr realistisch ist.

STANDARD: Sehr markant für diese Welt ist auch die Gewalttätigkeit. Womit wir zu der unglaublichen Messerstecherei-Szene im Badehaus kämen.

Cronenberg: Die Gewalt ist eine Folge der Realität. In "Eastern Promises" gibt es zwar nicht viele Gewaltszenen, aber sie haben deshalb Wirkung, weil ich mit ihnen zeigen will, wie sie sich wirklich anfühlt. Wie es ist, als jemand zu leben, in dessen Leben Gewalt eine zentrale Rolle spielt. Ich werde also nicht wegschauen oder wegschneiden. Ich werde es ganz ausführlich zeigen. Ich nehme das Morden ernst. Es ist ein absoluter Akt der Zerstörung. Ich bin Atheist und glaube nicht an ein Weiterleben nach dem Tod. Es gibt eine Lebenskraft, die nicht ausgelöscht werden will.

In dem Kampf im Badehaus sieht man diese Lebenskraft an den anderen Figuren, sie wollen wirklich überleben. Und: Es geht immer auch um ein Versprechen, das man mit dem Publikum hat. Es kommt nun mal ins Kino, um ein anderes Leben zu leben, auch wenn sie dieses nicht wirklich leben wollen. Wenn man Nikolai sieht, dann soll man seine Zärtlichkeit spüren, seinen sehr russischen Humor und seine Gefährlichkeit.

STANDARD: Man hat den Eindruck, Ihre Filme werden in mancher Hinsicht immer klarer und abstrakter. Etwa in der Art, wie Sie mit Genres umgehen.

Cronenberg: Ich glaube nicht, dass ich mich bewusst verändere, diese Dinge passieren einfach so. Ich denke nicht viel über Genre nach. Es ist nicht meine Absicht, bestimmte Elemente daran zu verändern. Ich kümmere mich nur um den einzelnen Film. Man muss die anderen Filme vergessen – obwohl es 100 Jahre Film noir gibt. Wenn man anfängt zu überlegen, was Zuschauer von Cronenberg erwarten, was seine Konventionen sind, dann hat man eigentlich schon verloren, weil man sich dann nicht mehr bewegen kann. Ich denke daher nur über die Welt des Films nach, den ich gerade mache. Er hat sein eigenes kleines Ökosystem. Selbst wenn nie jemand einen Gangsterfilm gesehen hat, muss er funktionieren.

STANDARD: Sie würden nicht zustimmen, wenn man sagen würde, Ihre neueren Filme legen mehr Wert auf Psychologie als auf Körperlichkeit?

Cronenberg: Ich weiß nicht, schließlich habe ich vor nicht so langer Zeit "eXistenZ" realisiert, der viel mit meinem Frühwerk zu tun hat. Ich glaube schon, dass ich mich als Filmemacher entwickle, aber auf keine sehr offensichtliche Weise. Beispielsweise arbeite ich immer noch mit der gleichen Crew, und wir verändern uns alle. Wir werden älter, reifer und sehen Dinge auf unterschiedliche Weise. Ich habe ein viel besseres Verständnis von den Mitteln des Kinos und davon, wie man sie einsetzt.

Meine Technik ist simpel. Ich schätze die simplen Ideen mittlerweile mehr. Außerdem arbeite ich sehr ökonomisch: Ich wiederhole nie besonders viele Szenen. Das Herumfuhrwerken mit der Kamera und den schnellen Schnittrhythmus jüngerer Filmemacher kann ich nicht nachvollziehen. Das ist für mich der Ausdruck von Verzweiflung: Sie glauben, die Filme werden langweilig, wenn sie's nicht tun. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.12.2007)