Simon Reynolds, "Rip it up and start again/Schmeiß alles hin und fang neu an: Postpunk 1978-1984." Aus dem Englischen von Conny Lösch. € 29, 90/576 Seiten. Verlag Hannibal, Höfen 2007.

Buchcover: Hannibal
Die Aufarbeitung der jüngeren Popgeschichte rund um die große Zeitenwende des Punk kennt mittlerweile einige verdiente Werke. Speziell England's Dreaming von Jon Savage und die von Legs McNeils und Gillian McCain gefertigte Interviewcollage Please Kill Me - die unzensierte Geschichte des Punk für den angloamerikanischen oder Jürgen Teipels Band Verschwende deine Jugend für den deutschsprachigen Raum erzählten diesen großen modernen Mythos der ab Ende der 70er-Jahre nicht ganz für eine Revolution, aber zumindest für eine Revolte reichenden, höchst widersprüchlichen Bewegung der radikalen Individualität bemerkenswert nah am damaligen Geschehen nach.

Allerdings verpuffte Punk als letztlich auch nur von Fett und Flachsen befreiter Rock'n'Roll relativ schnell in halbherzig nihilistischen Posen. Er wurde Teil des normalen Musikbetriebs. Wirklich interessant und musikhistorisch wie popkulturell bis heute nachwirkend und prägend begann es erst nach dem Ende des Punk-Hauptaushängeschilds Sex Pistols im Jahr 1978 zu werden.

Die vom britischen Autor Simon Reynolds 2005 veröffentlichte und jetzt endlich auch auf Deutsch vorliegende Essaysammlung Rip it up and start again/Schmeiß alles hin und fang neu an: Postpunk 1978-1984 nimmt sich Sex-Pistols-Sänger Johnny Rotten alias John Lydon zum Ausgangspunkt für seine auf mehr als hundert Interviews bauenden Betrachtungen einer Zeit, in der tatsächlich erst- und letztmals versucht wurde, die Grundfesten des Pop neu zu definieren.

John Lydon nämlich hatte 1978 endgültig genug - sowohl von der stilistischen Beschränktheit des Punk wie auch den Erwartungshaltungen seines nach Intensität gierenden Publikums. Dieses sah damals in den Sex Pistols oder Zeitgenossen wie The Clash oder Buzzcocks den "wahren", längst an den aufgeblasenen Dinosaurier-Stadionrock der Marke Pink Floyd verloren geglaubten Rock'n'Roll - und verwechselte einmal mehr Haltung mit Wahrhaftigkeit.

Dass John Lydon heute mit dem müden Aufguss der Sex Pistols als Oldie-Show um den Planeten tourt oder sich als Star eines britischen TV-Dschungelcamps rausholen ließ und eine mehr als lächerliche Altersfigur abgibt, steht auf einem anderen Blatt. 1978 startete Lydon damals mit seiner neuen Band Public Image Ltd. einen folgenreichen Befreiungsschlag aus der Formelhaftigkeit des Pop. Er vermengte auf Alben wie Metal Box oder Flowers Of Romance unterschiedlichste subkulturelle Ausdrucksformen wie Punk, Disco, Reggae oder sperrige Sound-Avantgarde aus der Schule des deutschen Krautrock. Heraus kamen bizarre, atemberaubende, mit jedweden Traditionen erfrischend respektlos umgehende Collagen, die immer auch eines in den Vordergrund stellten: den Künstler als zynischen Poseur und vor allem auch von sich selbst entfremdete Figur im Rampenlicht.

Zeitgleich - und hier ist sich Simon Reynolds seiner Rolle als damaliger journalistischer Begleiter in der britischen Musikpresse durchaus bewusst - entstanden oft auch aufgrund von Medienhypes in Großbritannien, den USA und bald auch global, von einer Selbstermächtigungswelle genialer Dilettanten getragen, ins Kraut schießende Szenen und Stile, die neben der Abkehr von klassischen Pop- und Rockmustern vor allem eines stolz verkündeten: Do it yourself!

Simon Reynolds erzählt so neben der Geschichte von John Lydon und Public Image Ltd. auch die Geschichte der Independent-Labels. Er berichtet von den Anfängen der Industrial-Bewegung um die radikalen Antimusiker Throbbing Gristle. Er besucht die New Yorker Talking Heads und die Vertreter der US-No-Wave-Szene, lässt sich auf den radikalen Nihilismus von Mark E. Smith und The Fall in Manchester ein, wo er auch die tragische Geschichte von Joy Division memoriert. Er erkundet die Anfänge des Synthie-Pop, die Speerspitze des weißen Rock, flotten schottischen Buben-Pop - und schreibt immer wieder auch davon, dass all diese Mini-, Maxi- und Makromikro-Trends und -stile schließlich vor allem auch als moderne Ideengeschichte zu lesen sind. Wie in keiner anderen Zeit fanden etwa die Denkansätze eines Adorno oder Derrida Eingang in die Hitparaden. Beispielsweise der zuckersüße, von Amphetaminen und Philosophieseminaren gespeiste Plastik-Soulpop von Scritti Politti: Subversion durch Affirmation!

Am Ende dieser Gründerzeit und Goldgräberstimmung stand der Start von MTV, Frankie Goes To Hollywood und die Rückkehr des "Corporate Rock". Simon Reynolds erzählt diese Geschichte klug und mitreißend - und alles andere als kulturpessimistisch. (Christian Schachinger /ALBUM/ DER STANDARD, Printausgabe, 15./16.12.2007)