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Stille Nacht, eilige Nacht: Musik beeinflusst Hautwiderstand, Blutdruck, Puls, Atmung - und Kaufverhalten. Das wissen die Audio-Architekten der großen Kaufhausketten sehr genau. Sie beschallen die Kundschaft und wiegen sie in Sicherheit.

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Eine musikalische Shoppingtour am Einkaufssamstag vor Weihnachten.

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Nach der Würmeiszeit hat alles angefangen, sagt Jürgen. Da hat sich der kreative Ausdruckswille entwickelt und mit ihm der moderne Mensch. Und das haben wir jetzt davon: Wir haben uns. Und die Musik.

Samstag, 8. Dezember, 9.50 Uhr, über Österreichs beliebtester Einkaufsstraße liegt ungewöhnlich viel Stille, Autos wurden heute hier verbannt. Geschäftlich betrachtet ist diese Ruhe ein Problem, "denn Stille wirft nur Fragen auf, und Fragen dürfen wir nicht liefern, nur die Antworten dazu", sagt Jürgen Bauer, und er ist ein Profi: Er vertreibt die Stille und mit ihr alle Fragen. Er verkauft die Antworten, die uns an fremden Orten, sei es in Geschäften oder Lokalen, in Sicherheiten wiegen: Er verkauft Musik. Was ich über das Ohr weiß, weiß ich von ihm.

9.57 Uhr, drei Minuten vor dem Start: Mit siebzig fremden Menschen stehe ich wartend vor verschlossener Tür, noch tragen wir den Schlaf in unseren Gesichtern und in uns selbst die Ruhe vor dem Sturm. "Zwei Minuten noch ...", flüstert einer. Ich dränge mich in Poleposition und wieder höre ich diese Stille, in meinem Rücken verspüre ich einen Druck.

Zu Jürgens Kunden zählen renommierte Marken und trendige Lokale, sie werden von ihm musikalisch und zielgruppengerecht betreut, denn jede Gruppe sucht und ersehnt sich ihr akustisches Revier. Wer weiß schon, dass wir unser musikalisches Zuhause rund um unser zwanzigstes Lebensjahr errichten - und nie wieder verlassen werden.

Punkt 10 Uhr. Ich habe einen schlechten Start, von meiner Poleposition abgedrängt, finde ich mich in zweiter Reihe wieder, doch die Schwingtür ist mit mir, sie blockiert. Musik unterdrückt die gemeinschaftliche Panik, und siebzig Menschen üben schweigend die Geduld. Hinter uns versinkt die Welt, und vor uns liegt ein Rettungsboot.

Tatsache ist: Musik beeinflusst Hautwiderstand, Blutdruck, Puls, Atmung. Manche meinen, sie könnte ein Viertel der weltweit verabreichten Beruhigungsmittel ersetzen, andere meinen, Medikamente ließen sich leichter schlucken. Ein Mann der Security setzt unsere Schwingtür wieder frei, und wir können uns entspannen: Die Kofferabteilung lassen wir links liegen, die Papierwaren dienen nur als Pannenstreifen. Rolltreppe heißt die nächste Schikane, aber eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr, also auch hier wieder abgedrängt, und nur durch massiven Körpereinsatz meiner Hintermänner werde ich wieder Teil der breiten Masse. Diese schwebt nun aufwärts, wie von Gotteshand getragen, in eine Kathedrale des Konsums.

Die alten Kathedralen, das seien die Vorbilder schlechthin, sagt Jürgen. Betreffend Musik, Akustik und natürlich auch den Raum, besser lässt sich ein Produkt kaum inszenieren. Und das Produkt hieß Gott.

Abtrünnige betreten die Spielzeugabteilung, ich aber bleibe im Hauptfeld und treibe in ihm der nächsten Rolltreppe entgegen, und wir schweben weiter, der Elektroabteilung entgegen, nur wenig Höhenmeter trennen uns von diesem Ziel. Wesentlich für das Geschäft war die Erfindung der Schallaufnahme und ihrer technischen Reproduktion. Sie machte Musik mit einem Schlag allerorts verfügbar, von nun an ging es bergauf. Damals war George Owen Squier gerade 14 Jahre alt, und niemand ahnte, dass er später mittels spezieller Musik-Arrangements die Produktivität von Fabrikarbeitern steigern würde.

Weihnachtshasen kommen uns entgegen, sie sind die Angestellten unseres Ziels, in wahrhaft origineller Kostümierung. Wir aber, harter Kern, drängen vorbei an ihnen und nichts wie hin zu den Flachbildschirmen, denn die - so scheint es - fehlen uns noch, zum Glück. In ihnen turnt ein Schimpanse guttural durch das Universum, ein Bildschirm darunter zeigt mich selbst, in meinem Rücken hat Bode Miller eine Bestzeit knapp verfehlt, und über allem feiert Madonna ein Comeback.

Drittes Auge

High Fidelity heißt die Abteilung. Glücklich, sagt mein Ohr, ist es hier es nicht. "Hier ist nichts zu machen", sagt Jürgen und wendet sich erklärend ab: "Das Ohr ist unser drittes Auge und fragt sich lebenslang: Darf ich den Augen trauen? Hier traut es sich das nicht" - Es sei denn: Wir liefern ihm ein weiches Bett. "Denn wo man singet, lass dich ruhig nieder ... Bösewichter haben keine Lieder." Ein Weihnachtshase brüllt mir ins Ohr, ob er mir behilflich sein dürfe. Reflexartig schüttle ich meinen Kopf, der Hase hoppelt weiter und ich will in ruhigere Gefilde. "Was wir dem Ohr vermitteln müssen: Hier bist du sicher, hier bist du zuhause."

Ich merke: Bügeleisen schätzen Stille, Waschmaschinen lieben Christl Stürmer, bei den Espressomaschinen vermittelt mir eine kaum hörbare Melodie den innigen Wunsch, meinen Liebsten Espresso zu servieren - dass es die nicht gibt, sagt sie mir nicht. George Owen Squier, inzwischen erwachsen, machte diese Lüge 1922 zum Geschäft. Das Prinzip war einfach (und "funktionale Hintergrundmusik" geboren): Populäre Melodien, knapp oberhalb der Wahrnehmungsgrenze gespielt und ihres informativen Gesangs beraubt, vermitteln uns und unseren Ohren Sicherheit und ein Zuhause: Das Ohr entspannt, das Auge kauft - der Mensch ist froh.

Um 10.20 Uhr bin ich weit davon entfernt: "Dieses Auto fährt in Schlamm, Wasser und Schnee!", schreit mich ein Achtjähriger an und fügt fragend hinzu: "Nehmen?!" - Ich überlege noch, da erscheint sein Vater hinter mir. "Das Ding kostet neunundsiebzig neunzig!", sagt er und lässt mich gnädig aus dem Spiel. "Im Fernsehen haben sie gesagt, das kann so schnell fahren, dass seine Reifen anfangen zu brennen." - "So ein Blödsinn", sagt der Vater. Mein Abschied heißt hier Flucht und der unbesetzte Kundendienstschalter ist mein Boxenstopp. "I love you with every beat of my heart" schmeichelt es aus seinem Deckenlautsprecher.

"Die Musik muss flächig sein, sonst macht sich das Ohr auf die Suche nach ihrer Quelle. Kleine Deckenlautsprecher, in regelmäßigen Abständen sind ideal. Da macht es sich das Ohr bequem, bewusste Wahrnehmung wird unterschritten." Entspannung dieser Art rettete noch in den 1990er-Jahren manch eine Einkaufskette vor dem Konkurs.

Kurz vor elf gibt sich die Dessous-Abteilung ernüchternd still. Zwischen zehntausend BHs und ihren farblich abgestimmten Slips bin ich nun angenehm allein. "Dessous sind einfach", sagt Jürgen: "Nimm Musik von starken, selbstbewussten Frauen, auf keinen Fall HipHop, und wenn schon Männerstimmen, dann nur weiche." Eine solche spricht mich an. Sie gehört dem "Center Manager", und als geschäftsführendes Organ der Kathedrale weiß er vieles: zum Beispiel, dass ich heute einer von sechzigtausend Kunden bin. DJs gibt es in diesem Imperium keine, die Musik wird via Satellit eingespeist. George Owen Squiers' konsumfördernden Musikvertrieb gibt es noch immer. "Muzak" hat er ihn 1934 genannt, und so heißt er bis heute; Shoppingmalls wollen ein Zuhause sein und werden ferngesteuert programmiert. Ihre DJs heißen Audio-Architekten und sitzen vor den Toren Amsterdams. Die dortige Europazentrale ziert eine Bronzestatue Eric Saties, aber der kann nichts dafür.

"Muzak ist bald Vergangenheit", sagt Jürgen Bauer, denn Käufer sind zunehmend markenorientiert. Und Markenkunden wollen nicht nachhause, sie wollen verreisen - in kulturelle Schichten, und dort bleiben, wenn es geht. Marken als Plakativum einer sozio-kulturellen Zugehörigkeit, und das vermittelt auch entsprechend plakatierende Musik, bei der sich markenhörig kaufen lässt. Wir hören nun die Marken, ohne sie zu nennen: Hochwertige Mode für die Samstagnacht vermittelt edle House-Musik. Preisgünstige Teenie-Fashion schreit nach Ö3 aus allen Poren. Beim Markenjuwelier ist die Musik leise, doch der Frequenzbereich recht breit, das vermittelt Qualität. Ein Mobilfunkbetreiber übt in seiner Lounge die Stille, wirft also Fragen auf, doch Antworten liefert er keine. Eine bekannte Software hört Nirvana wie auch deren Hacker, und für Midlife-Herrensakkos ist Britney Spears zu jung und ihr Subwoofer auch zu breit. Markenbrillen sollten schweigen, da gilt Beratung, und Stille ist Gold. Kindermoden meiden Tanzmusik, sonst sehen sich die Mütter leid, und Trompeten sind gefährlich, Alarmsignale sind ihr Metier.

Gibt es noch weiße Flecken im professionellen Geschäft akustischer Markierung, frage ich den Profi. "Banken, Bankomat-Foyers und Parkplätze, die würde ich gerne machen." - Warum? - "Ich möchte die Menschen bewegen." - Brauchen die Stress? - "Nein, aber man versucht, sie in Gang zu halten. Dann können sie abends erschöpft einschlafen und ein paar Hakerln machen auf der Einkaufsliste ihres Lebens - erledigt!"

Nach der Würmeiszeit begann es, wurde zur Kathedrale, dann zur Fläche, schließlich zum Plakat: Hier gehörst her, hier bist du zuhause. (Florian Flicker/Der Standard/Album 15.12.2007)