"Kein Friedensvertrag kann von Dauer sein, wenn wir uns weiterhin hassen": Rabbiner Arik Ascherman in Wien.

Foto: Fischer
Arik Ascherman, geboren 1959 in Erie, Pennsylvania, ist Direktor der 1988 von ihm mitbegründeten israelischen Vereinigung Rabbiner für Menschenrechte (RHR). Er studierte auf Harvard und arbeitete in den USA und ab 1981 – seit 1994 ständig – in Israel. Seine Frau Einat Ramon und er sind das erste Rabbiner-Ehepaar des Landes.

Zur RHR zählen ca. 100 Rabbiner, viele von ihnen mit Kongegrationen; auch rabbinische Studenten, ein Stab von ca. 15 und Hunderte Freiwillige, unter ihnen laut Ascherman auch Siedler. Vor kurzem hielt er auf Einladung der Karl Kahane Stiftung in Wien einen Vortrag über RHR. Das Gespräch führte Michael Freund.

***

STANDARD: Zur Zeit wird viel darüber debattiert, vor allem in Israel, wie die Annahme der US-Geheimdienste, dass der Iran kein Atomwaffenprogramm habe, zu deuten sei. Kann angesichts der Ängste Ihr Menschenrechtsanliegen überhaupt Gehör finden?

Ascherman: Es wird in Israel gerne so gesehen: Am Friedensprozess im Nahen Osten hängt alles. Alles andere hängt davon ab. Schon nach dem Oslo-Abkommen, in den frühen Neunzigern, haben Intellektuelle, durchaus auch Linke, argumentiert: Wenn man bei den Menschenrechten Abstriche machen muss, um das Ziel des Friedens zu erreichen, dann möge es so sein. Menschenrechte sind für die meisten Menschen einfach „nett“ – das ist die schärfste Kritik, die man formulieren kann.

Sie waren und sind auch eine beliebte Argumentationswaffe, um den Gegner zu knüppeln. Schon bei der Formulierung der universellen Menschenrechte 1948 gab es zwei Gruppen an Gesetzen. Mit den wirtschaftlichen Rechten trumpften die kommunistischen Länder auf, mit den politischen der Westen.

In Israel muss man die Verbindungen zwischen den Mikro- und Makroprozessen der Gesellschaft erkennen. Wir von der Gruppe Rabbiner für Menschenrechte haben die zweite Intifada eineinhalb Jahre zuvor vorhergesehen. Denn es wurde klar, dass die palästinensische Bevölkerung vom so genannten Friedensprozess immer enttäuschter waren, weil die Menschenrechte verletzt wurden.

Der Abriss von Häusern, die Landnahmen, die ungerechte Verteilung von Wasser – dass manche Palästinenser zwei Stunden lang Wasser in der Woche hatten, während die Siedler Swimming Pools betrieben –, alle diese unter Anführungsstrichen unbedeutenden Details machte die Bevölkerung reif für einen Aufstand.

STANDARD: Dann kam der Spaziergang von Ariel Sharon.

Ascherman: Der war nur ein Funken in den trockenen Reisig. Wir wollten die damalige Regierung darauf hinweisen, wie explosiv die Situation war – wie man sah ohne Erfolg.

STANDARD: Mit welchen Konsequenzen für Sie?

Ascherman: Die Frage ist – zum Beispiel jetzt, nach Annapolis –, ob wir bei einem neuen Friedensprozess etwas dazu gelernt haben. Auch die Palästinenser müssen lernen, dass Gewalt nichts bringt. Es ist ja interessant: Jede Umfrage zeigt, dass vergleichbar große Mehrheiten der Israelis und der Palästinenser für einen Kompromiss sind; und dass zugleich eine ähnlich große Mehrheit der Palästinenser glaubt, dass nur Gewalt den Friedensprozess weitertreiben und eine Einigung bringen kann, was natürlich moralisch problematisch und tragisch falsch ist.

Wir Israelis müssen ihrerseits akzeptieren, dass man nicht von Symmetrie sprechen kann. Wir haben die überwältigende wirtschaftliche und militärische Übermacht, und man kann nicht einerseits den Frieden ausverhandeln wollen und zugleich die Übermacht verwenden, um den Gegner vor vollendete Tatsachen zu stellen, wie wir das seit Oslo machen. Das zerstört den Friedensprozess.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass Fraktionen im US-Außenministerium es so ähnlich sehen und entsprechend etwas bewegen wollen?

Ascherman: Wir haben oft mit Mitarbeitern des US-Konsulats in Jerusalem zu tun. Die meisten haben verstanden, worum es geht. Manchmal geht dieses Wissen weiter bis Washington, manchmal verschwindet es unterwegs. Wenn es um Fragen des Überlebens geht, wird Israel immer im eigenen Interesse handeln und dabei auch die Wünsche der Vereinigten Staaten missachten.

Doch es gibt Beispiele, wo wir als Rabbiner für Menschenrechte Erfolge gehabt haben, die mit dem Druck aus Amerika zusammenhingen. Zwischen 1999 und 2001 wurden sehr viel weniger Häuser der Palästinenser zerstört – nicht Abriss aus Sicherheitsgründen, sondern die, die durchgeführt werden, weil die Bau- und Flächenwidmungsgesetze so manipuliert werden, dass die Palästinenser nicht bauen dürfen – wobei Siedler nachher sehr wohl sich dort niederlassen. Bauen die Palästinenser trotzdem, illegal, dann werden die Häuser zerstört.

Die damalige Außenministerin Albright hat das zu einem persönlichen Anliegen gemacht, nachdem es durch uns bekannt wurde – ich hatte damals meine drei Minuten Berühmtheit auf dem Sender CNN, der uns zeigte, wie wir ein zerstörtes Haus wieder aufbauten. Sie hat mit jemanden in der Regierung telefoniert, und die Demolierungen gingen drastisch zurück. Jetzt allerdings gibt es eine Welle an Zerstörungen ...

STANDARD: ... und wer telefoniert?

Ascherman: Das ist die Frage. Condoleezza Rice hat „ihr Missfallen ausgedrückt“, und das Timing, gerade nach Annapolis, ist nicht gut für eine aggressive Pro-Siedler-Politik. Wir warten noch auf das Telefongespräch.

STANDARD: Sie sind auch durch Aktionen rund um den Olivenanbau bekannt geworden.

Ascherman: Ja. Wir pflanzen Bäume wieder an, die durch Siedler oder die Armee ausgerissen wurden. Und wir stellen uns auch als menschliche Schilde zur Verfügung, um Palästinenser, wenn sie zur Olivenernte gehen, vor der Gewalt der Siedler zu schützen. Damit haben wir einigen Erfolg, bis zu einem Sieg vor dem Obersten Gericht im Juni 2006. Mittlerweile können Palästinenser mit der Hilfe der Armee rechnen, wenn sie ihrer Landarbeit nachgehen wollen.

Der erste Durchbruch aber war 2002. Damals wurden Palästinenser und wir attackiert, mit Steinen beworfen, und die Armee und die Sicherheitskräfte standen daneben und taten zunächst nichts. Dann sprachen wir mit ihnen, versuchten, rechtlich etwas zu erreichen, vor allem aber soll es einen Austausch über das Thema Olivenernte während eines Treffens Sharon-Bush gegeben haben. Auf einmal wurde die Lage bei den Bäumen erträglicher. Wenn es also einen Willen in Washington gibt, dann hat das eine Wirkung in Israel.

STANDARD: Wie geht die israelische Lobby AIPAC mit ihren Aktivitäten um?

Ascherman: Es gab von AIPAC nie Angriffe oder Widerstand. Ich kenne Leute in dem Political Action Committee. Sie sind nicht unbedingt politisch rechts. Sie sind zum Teil einfach Anwälte, die einen Klienten vertreten. Vielen ist klar, dass der Widerstand gegen Menschenrechtsverletzungen letztlich zu unserer Sicherheit beiträgt.

Wir von der Menschenrechtsbewegung werden manchmal von arabischen Fernsehanstalten interviewt, oder man zeigt uns, wie wir Rabbiner mit den Palästinenser einen Sieg über Landnahme feiern. Ich glaube, dass auch AIPAC versteht, dass man überhaupt keine bessere PR für Israel in den arabischen Ländern bekommen kann.

STANDARD: Wie werden Sie von den Rechten in Israel wahrgenommen?

Ascherman: Wir bekommen gelegentlich Todesdrohungen oder werden als Verräter beschimpft, und wenn es nicht so ernst wäre, wäre es fast lustig. (lange Pause) Jeder in Israel weiß heute, dass wir entweder miteinander leben oder sterben werden. Die Vernünftigen möchten lieber leben. Es gibt auch solche, die die apokalyptische Vision haben, dass wir sowieso vernichtet werden, aber dass wir wenigstens die andern mit in den Tod reißen werden.

STANDARD: Ist diese Mehrheit eher bei den Siedlern vertreten?

Ascherman: Ja.

STANDARD: Wer sind die Siedler eigentlich? Sind sie in Israel für die Patt-Situation verantwortlich, oder wer sonst?

Ascherman: Der Krieg von 1967 war eine Wasserscheide. Er hat unglaublich starke messianische Kräfte in der religiösen jüdischen Welt entfesselt: „Gott ist auf unserer Seite.“ So fühlte sich der Sieg von 1967 an, und kaum jemand warnte vor den Konsequenzen dieser Haltung.

Es gab einerseits die Haltung, die besetzten Gebiete als Einsatz in den Verhandlungen zu betrachten. Andere wollten auf nichts verzichten und sprachen zudem von der „strategischen Tiefe“ und Bedeutung des Landes. Die Haltung der arabischen Welt trug zur härteren Position bei – es gab ja niemanden, mit dem man hätte reden können. Es gab also bald Schritte zur Integration der besetzen Gebiete in den eigentlichen Staat.

Das Hauptargument war immer die Sicherheit. Doch heute findet man kaum noch jemanden, der aus der militärischen und Sicherheitsperspektive behaupten würde, dass die besetzten Gebiete uns mehr Sicherheit geben würden. Im Gegenteil, die Siedlungen zu schützen gilt vielen als zusätzliche Belastung (drain).

Nun kommen jedoch die messianischen Kräfte ins Spiel, denen zufolge es die von Gott gewollte Aufgabe ist, das biblische Israel zu erlösen. Sie haben ihre Förderer und Financiers. Doch die Wirtschaftstreibenden sind pragmatischer, sie wissen, dass Frieden unerlässlich fürs Geschäft ist.

STANDARD: Und die Siedler selber?

Ascherman: Die religiösen Fanatiker sind auch unter ihnen eine Minderheit. Die meisten Siedler leben ja nicht weit von den Grenzen von ’67, sie waren durch finanzielle Anreize dorthin gelockt worden. Viele wären schon längst wieder weggezogen, wenn sie es sich leisten könnten. Jetzt wird darüber diskutiert, sie von dort loszukaufen.

Der Kern der Fanatiker hingegen ist von dem Rückzug aus dem Gaza-Streifen so enttäuscht, dass er die israelische Regierung nicht mehr anerkennt. Sie würden lieber als palästinensische Staatsbürger dort bleiben statt wegzuziehen. Die Mehrheit der Beteiligten aber sieht ein, dass eine Form des Kompromisses gefunden werden muss.

STANDARD: Was ist das Hauptproblem?

Ascherman: Dass eine sogar noch größere Mehrheit auf beiden Seiten davon überzeugt ist, dass man mit niemandem von der Gegenseite reden kann.

STANDARD: Was können Sie also tun?

Ascherman: Es geht darum, in das gedankliche Universum der Israelis ein anderes Konzept der jüdischen Tradition einzuführen, als zur Zeit vorherrscht. Es geht dabei nur teilweise um die Situation der Palästinenser. Wir arbeiten ja auch mit obdachlosen oder arbeitslosen Israelis und kämpfen für deren Menschenrechte.

Das Wichtigste aber ist, dass wir gegen Stereotype angehen und Hoffnung bringen. Ich habe einmal mit dem Begründer der islamischen Bewegung innerhalb Israels gesprochen. Er hatte eine gute Idee, aus der leider nichts geworden ist, nämlich interkonfessionelle Delegationen zu den Spitzen beider Regierungen zu schicken.

STANDARD: Sie werden aber dafür, wie man auf rhr.israel.net nachlesen kann, auf viele andere Weisen initiativ.

Ascherman: Es ist mir immer wieder passiert, dass ich beim Wiederaufbau eines Hauses geholfen habe, und dass die Eltern darauf bestanden haben, dass ihre Kinder meine Mitarbeiter und mich treffen. Es ist immer dasselbe: „Unser Zehnjähriger hat gerade gesehen, wie unser Heim zerstört und seine Eltern erniedrigt wurden. Was sollen wir ihm sagen, wenn er erklärt, er möchte ein Terrorist werden? Er soll wissen, dass nicht alle Israelis kommen, um unser Haus niederzureißen, sondern dass es auch solche gibt, die Schulter an Schulter mit uns das Haus wieder aufbauen.“

Kein Friedensvertrag kann von Dauer sein, wenn wir uns weiterhin hassen. Was also können wir tun, den Eltern zu helfen, dass ihre Kinder etwas anderes werden wollen als Terroristen? Was mich betrifft: Unsere Aktionen sind die richtige und die jüdische Tat. Aber sie ist auch in unserem besten Eigeninteresse. Es ist das Beste, was ich für die Sicherheit meiner Kinder tun kann. Der wahre Zionismus heute ist es, für ein Israel zu arbeiten, dass nicht nur physisch stark ist, sondern auch moralisch.

STANDARD: Das könnte in das Schema passen, mit dem Israel vielerorts kritisiert wird – nämlich dass es nicht moralisch stark ist. Hat die ausländische Kritik einen Einfluss auf Ihre Arbeit?

Ascherman: Israel wird ja gerne als die Supermacht des Nahen Ostens gesehen. Von innen sieht das anders aus für uns. Wir fühlen uns als belagerte Minderheit, die alle Nachbarn ins Meer drängen wollen. Ein Volk, das, wie die Geschichte gezeigt hat, immer Katastrophen ausgesetzt war. Viele werden daher nervös, wenn sozusagen Schmutzwäsche öffentlich gewaschen wird.

STANDARD: Wer unterstützt die Rabbiner für Menschenrechte?

Ascherman: Viele Menschenrechtesorganisationen in Israel bekommen finanzielle Unterstützung von außerhalb der jüdischen Welt ...

STANDARD: Von der EU zum Beispiel?

Ascherman: Zum Beispiel. Ich kenne die Details nicht. Unser Geld kommt von der jüdischen Gemeinschaft weltweit. Da es in ihr nach der zweiten Intifada zu einem Rechtsruck gekommen ist, sollte man glauben, dass wir dadurch Probleme bekommen würden. Das Gegenteil ist der Fall, die finanzielle und moralische Unterstützung ist enorm gewachsen.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das?

Ascherman: Es hilft, dass wir Rabbiner sind und dass wir eine ausgewogene Meinung haben, das heißt den Terror nicht unter den Tisch kehren. Es ist auch interessant: Wenn man die aktiven Juden in Nordamerika befragt, will einerseits niemand als anti-israelisch gesehen werden. Andererseits machen sich viele Gedanken darüber, ob das Israel, dass man sich vor 60 Jahren erträumt hat, viel mit der heutigen Wirklichkeit gemein hat bzw. welchen Weg wir gehen müssen. Viele sehen das Problem. Nach einem Gespräch mit mir mögen sie verstört sein. Aber es erfüllt sie mit Stolz, dass es Leute in Israel gibt, die im Namen der jüdischen Werte arbeiten, an die sie glauben. Darum, denke ich, gibt es so viel Unterstützung für uns.

STANDARD: Sie sind insgesamt hoffnungsvoll?

Ascherman: Das Bild ist schon eher deprimierend. Der Bau der Mauer geht weiter. Land wird den Palästinensern weiterhin weggenommen. Doch wir sehen, dass gemeinsame, gewaltfreie Arbeit zu Veränderungen führen kann. Darum habe ich Hoffnung. Es muss eine Koalition der Hoffnung geben. Nur ich, als religiöser Israeli, kann die Stereotype widerlegen, die so viele Palästinenser über uns haben. Dadurch erhöhe ich die Chancen, dass sie den Friedensbefürwortern in den eigenen Reihen zuhören. Und nur die Palästinenserkönnen letztlich mir die Macht geben, dass meine Leute mir zuhören. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.12.2007)