Marlene Streeruwitz

Foto: Der Standard/Andy Urban

Bild nicht mehr verfügbar.

Weihnachten unter dem Motto "Familie".

Foto: AP/FRANK HORMANN
Es waren einmal zwei Freundinnen, die hießen Hetty und Netty, und weil sie weit weg von zu Hause waren, wünschten sie sich ein Weihnachtsmärchen.

Hetty war in den Bergen aufgewachsen. Vom Haus ihrer Eltern hatte sie weit hinauf in die höchsten Gipfel der Alpen hinaufschauen können und weit hinunter ins Tal. Aber die Eltern hatten sich scheiden lassen und in Hettys Zimmer wohnte jetzt eine viel jüngere Stiefschwester. Hetty hätte ihr altes Zimmer mit der neuen Tochter ihres Vaters teilen müssen. Die Mutter war in die nächste Stadt gezogen und hatte nur eine kleine Wohnung. Die Mutter hatte zu Hetty kommen wollen und Weihnachten mit ihr feiern. Aber dann war wieder ihre Mutter krank geworden, und Hettys Mutter hatte das Ticket verfallen lassen müssen. Sie hatte nur die Flughafentaxen zurückbekommen können, und beide waren sehr traurig. Aber es war nichts zu machen. Hettys Großmutter brauchte Hettys Mutter, und Hetty musste allein bleiben.

Verständnis

Netty wollte nicht nach Hause, um Weihnachten zu feiern. Netty wollte sich und ihrer Familie beweisen, dass sie unabhängig war und Feiertage allein bestehen konnte. Netty war dann doch traurig. Ihre Eltern sagten ihr am Telefon, dass sie das verstünden. Dass sie Verständnis hätten, dass Netty ein eigenes Leben führen wollte. Bei jedem Telefonat hatte Netty sich gewünscht, der Vater oder die Mutter oder ihr Bruder würden doch darauf bestehen, dass sie kommen solle. Aber alle blieben bei ihrem Verständnis, und Netty musste es nun aushalten, verstanden worden zu sein.

Hetty und Netty brachen also auf und machten sich auf die Suche nach einem Weihnachtsmärchen. Zuerst suchten sie in der Stadt. Sie gingen durch die hellerleuchteten Straßen und schauten in jede Auslage. Aber die Kaufhäuser hatten für dieses Jahr Weihnachten unter das Motto "Familie" gestellt. In jeder Auslage fanden sich Gruppen von Eltern mit ihren Kindern. Mütter mit ihren großen Töchtern in Abendkleidern und Cocktailmode vor klassischen offenen Kaminen, in denen Feuer auf Bildschirmen loderte. Väter mit ihren erwachsenen Söhnen im Smoking mit dem Kummerbund in Schottenkaro. Sie standen im Jagdzimmer mit echten Waffenschränken mit echten Waffen. Es gab Familienszenen vor Christbäumen, in denen alle Kleider in schottischem Tartan gehalten waren. Sogar das Baby hatte ein Schottenpulloverchen an. Eine Mutter im roten Abendkleid mit einer kleinen Tochter im gleichen Kleid in klein. Sie saßen auf einem grünen Samtsofa, und das Hundebett war mit demselben grünen Samt überzogen.

Mit Schmuck beladen

Es gab Weihnachtspaare. Sie in einem weißen Abendkleid mit glitzernden Steinen, die an feinen Fäden hingen und in funkelnden Kaskaden den Körper der Frau umspielten. Der Mann trug einen weißen Smoking mit einer silbernen Schärpe. Schmuck. Alle Kleiderpuppen waren mit Schmuck beladen. Hetty und Netty gingen die Straße weiter hinauf. Hetty fragte Netty, ob sie später einmal auch ihre Kleidung mit dem Schmuck des Weihnachtsbaums abstimmen wolle. Da mussten beide sehr lachen, und sie blieben stehen. Rund um sie waren alle sehr eilig unterwegs, und sie wurden in einen Hauseingang gedrängt. Netty musste sich vor Lachen anlehnen. Sie stand mit weit ausgebreiteten Armen und wollte sagen, dass sie nicht mit einem Christbaum verwechselt werden wollte, da ging die Tür hinter ihnen auf. Netty musste an einem Türöffner angekommen sein.

Beide Türflügel öffneten sich langsam vor ihnen. Sie konnten in einen Gang sehen. Nach hinten zu wurde der Gang immer heller. Das Licht war erst dämmrig rosig und weit, weit hinten schien es strahlend weiß. Das Licht war so hell, dass man nichts anderes mehr sehen konnte. Hetty und Netty standen an der Tür. Eine Stimme von oben sagte: "Next!" Hetty und Netty sahen einander an. Weil sie aber immer noch ein bisschen lachen mussten, machten sie einen Schritt in den Gang. Sie hörten noch einmal dieses "Next!" Es klang ungeduldig und grantig. Hetty murmelte, dass das klinge, als wären sie bei der Einreise und müssten darauf warten, dass sie zum Einreisebeamten vorgehen dürften. Sie gingen ein paar Schritte den Gang entlang. Da kam ein Mann auf sie zu. Er war dünn und groß und grün.

Er trug einen grasgrünen Anzug mit einer Weste aus grünem Schottenmuster. Netty flüsterte Hetty zu, dass es sich da offenkundig um ein Fashion-Victim handle. Der Mann war vorwurfsvoll. Ob sie nicht gehört hätten, dass sie an der Reihe wären. Hetty und Netty sahen einander an. Der Mann musterte sie und sagte dann, dass man an Duos eigentlich nicht interessiert sei. Dann wandte er sich ab und deutete ihnen, ihm nachzugehen.

Taghell erleuchtet

Hetty und Netty zuckten mit den Achseln und trotteten ihm nach. Der Mann schien ihnen viel zu grantig, um gefährlich sein zu können. Er ging ihnen in das Licht voraus. Hinter dem Licht kamen sie in eine riesige Halle. Die Halle war taghell erleuchtet und warm. Säulen trugen eine Kuppel. Reste von Fresken waren an den Wänden oben zu sehen. Im ganzen Raum waren Wände aufgestellt. Manche bemalt. Mit Landschaften. Manche mit Innenansichten. Es gab Teile von Zimmern aufgebaut. Kamine mit gemaltem offenen Feuer. Statuen. Skulpturen. Riesige Bilder von wilden Tieren im Dschungel.

Das Eismeer. Schneehänge. Ein Winterwald. Zwischen den Leinwänden und Stellwänden und Scheinwerfern und Kleiderständern gingen wunderschöne junge Menschen herum. Sie zupften an ihren Kleidern und sahen einander musternd an. In einer Ecke waren Schminktische und Sessel. Der dünne Mann im grünen Anzug deutete Hetty und Netty, dahin zu kommen. Hetty und Netty blieben aber am Eingang zu diesem Saal stehen und sahen sich um. Es war so unvorstellbar, dass ein solcher Raum gleich hinter diesem ganz normalen Hauseingang sein sollte. Der dünne Mann im grünen Anzug wurde ungeduldig und rief aus der Ecke, dass sie nun kommen sollten. Oder sie konnten es gleich bleiben lassen. Für ihn wäre das alles eins. Da kam die Schneekönigin aus einer Tür an der Seite. Hetty und Netty waren sich nachher einig, dass sie beide sofort gedacht hatten, dass so die Schneekönigin ausgesehen haben musste. Die Schneekönigin unterbrach den dünnen Mann im grünen Anzug. Was er wolle, fragte sie. Diese beiden wolle sie so, wie sie wären. Sie lächelte Hetty und Netty an und führte sie in eine andere Ecke. Sie sollten sich Kleider aussuchen, sagte sie. Und sie sollten einfach fragen, wenn sie etwas wissen wollten. Die anderen jungen Personen lächelten sie an. Zuerst waren Hetty und Netty scheu und standen nur da und schauten sich um. Aber dann begannen sie doch, Kleider zu probieren.

"We are ready to shoot"

Die Schneekönigin kam wieder zurück und nickte. Sie rief: "Bruce. We are ready to shoot." Ein Mann kam aus derselben Tür wie sie. Er sah nett aus. Ein sehr eleganter Weihnachtsmann. Auch darin waren Hetty und Netty sich dann einig. "My husband", sagte die Schneekönigin zu ihnen. Dann begann das Fotoshooting. Aber es war nicht so, wie sie das in den Realityshows gesehen hatten, wo Heidi Klum böse wurde, wenn ein Model nicht gleich die richtigen Striptease-Hüftrollbewegungen hatte und in sexuellen Phantasien schwelgen konnte. Sie sollten in verschiedenen Märchen spielen, in Schneewittchen, dem Mädchen mit den Schwefelhölzern, der Pechmarie und dem Nussknacker, und deshalb begannen sie wieder zu lachen. Sie mussten lachen, weil sie jetzt selber wie die Schaufensterpuppen Weihnachten spielten. Manchmal gelang es ihnen, ernst zu bleiben. Sie mussten sich aber schrecklich beherrschen und sahen dann gleich böse drein. Bruce war aber immer mild und freundlich und musste selber lachen.

Nach dem Umziehen kam die Schneekönigin. Das wäre gut gegangen, sagte sie. Sie könnten das weitermachen. Hetty und Netty sahen einander an. Wären sie nicht zu alt dafür, fragten sie. Sie kä- men sich uralt vor, zwischen diesen Kindern hier. Die Schneekönigin lächelte, das wäre es nicht. "You are too serious already." Sie gab beiden einen Umschlag und ging weg. Der dünne Mann im grünen Anzug lief an ihnen vorbei, rief: "Next. Next!" und kam dann mit einem jungen Mann zurück.

Hetty und Netty gingen. Sie mussten auf der anderen Seite hinaus. Sie kamen auf eine dunkle Seitenstraße und wussten erst gar nicht, wo sie waren.

Im Kuvert der Schneekönigin war Geld. Es war viel Geld, aber nicht so viel. Hetty und Netty kauften teure Tickets nach Hause und feierten Weihnachten mit Hettys Mutter. Am ersten Weihnachtsfeiertag fuhr Netty zu ihrer Familie, und dann waren doch alle sehr froh, dass sie da war. (Der Standard/rondo/21/12/2007)